La Paloma

Text: | Ressort: Diary | 22. August 2008

Samstagmorgen, 8:00 Uhr. Ein Lächeln zuckt durch das bärtige Gesicht mit der roten Nase und den kleinen Augen, als ich mich neben ihn auf die Plastikbank am S-Bahnsteig fallen lasse. Ich kann nicht sagen, ob er meine sehr offensichtliche, völlige Erschöpfung lustig findet oder sich einfach über die Anwesenheit eines anderen Menschen freut. Interessiert mich auch nicht. Er ist wahrscheinlich Mitte sechzig, riecht nach dem Suff des Vorabends und öffnet sein erstes „Sterni“ des Tages. Ich lehne sein Angebot eines Schlucks auch gleich ab. Er versteht. „Warste tanzen“? Ich nicke müde. Keine Lust auf Konversation. Nicht jetzt. Nicht mit ihm.

Und sofort packt mich das schlechte Gewissen. „Willste eine rauchen?“ Ich halte ihm meine Schachtel hin. Er nimmt dankend an. Als er mit seiner Hand nach der Zigarette greift, sehe ich die Tätowierung auf seiner Hand. ‚Lapaloma’ steht da in krakeligen Buchstaben. Jetzt muss auch ich schmunzeln. „Schönes Tattoo“, lüge ich ihn an. ‚Lapaloma’ auf seine Hand tätowiert zu haben ist aber auch wirklich albern. „Ist uralt.“, sagt er, „Mindestens 25 Jahre, noch aus der DeeDeeChhhh.“ Dabei hält er sich die Hand mit gespreizten Fingern vors Gesicht. Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, was er meint: DDR, Knast. Jetzt möchte ich doch mehr wissen, habe jedoch Angst, in Dingen zu stochern, die besser ruhen sollten. Er aber redet einfach in seiner schrulligen Art weiter. Weigert sich konsequent, den verflossenen ostdeutschen Staat mit dem richtigen Namen anzusprechen und berlinert weiter: „Is mein erstes jewesen. ‚Lapaloma’ wegen dem Song, weeßte? Ick bin mit 25 wegen versuchter Republikflucht einjefahren und danach imma wieder rein und raus. Meistens Rummelsburg, wegen Klauen und anderem Scheiß.“ Beim Erzählen fuchtelt er mit seinen von Arbeit gezeichneten Händen in der Luft herum. Dass dabei ständig sein Bier überschwappt, stört ihn wenig. Ich frage ihn, ob er sich im Knast noch mehr Bilder hat stechen lassen. Er krempelt seine Jacke hoch und zeigt mir eine Rose mit dem Schriftzug ‚Elvis’, dem Interpreten des Songs, auf seiner Hand. „Ooch schon dreißich Jahre tot, der Kerl“, kommentiert er und grinst übers ganze Gesicht. „Ham wir immer heimlich jehört. Wir hatte sogar n’ illegalen Plattenspieler im Bau. Warn janz schöner Akt, dit Teil zu besorgen!“

Wir steigen in die Ringbahn ein und sind beide für einen Moment still. Als ob unser Gespräch an die Wartebank gebunden war und der Ortswechsel bedeutet, dass wir jetzt beide wieder in verschiedenen Welten leben. Er bleibt kurz stehen und zögert, sich neben mich zu setzen. Nachdem er sich überwunden hat, sprudelt es einfach weiter aus ihm heraus. „Wir durften ja nichts machen. Kein Skat oder Doppelkopp, die Karten haben wir uns selbst aus Tabakkartons und Bohnerwachs jebastelt. Die wollten, dass wir Schach spielen. Aber wer will dat schon im Knast? Dauert doch viel zu lange.“ Und weiter übers Tätowieren: „War richtich teuer, weil du hast immer zwei Leute jebraucht. Einer hat jestochen und der andere stand Schmiere. Und du musstest still sein. Dit war schwer, weil hat ja höllisch wehjetan und ewich jedauert. Ham ja allet mit Stopfnadeln jemacht.“ Er knöpft sein Hemd auf und zeigt mir das Tattoo einer betenden Halbnackten auf seiner Brust und berichtet, dass sie dafür sechs Monate gebraucht haben. Dass er im Sommer am See ständig von der Polizei vertrieben wurde oder Mütter ihn gebeten haben, sich doch bitte etwas überzuziehen. „Die war ja eigentlich nackich. Aber irgendwann hatte ick es satt, dass die Leute ständig jemeckert haben und hab der einfach`n Schlüpper anjezogen.“

Er springt von seiner Zeit im Knast zu Beschimpfungen der beiden Staaten seines Lebens zu lapidaren Andeutungen der Hoffnungslosigkeit, die sein jetziges Leben mit sich bringt. Das Gefängnis liefert ihm im Rückblick die schönsten Geschichten. Immer wenn er berichtet, wie Beamte ausgetrickst wurden, um sich die Zeit hinter Gittern zu vereinfachen, leuchten seine Augen und Stolz schwingt mit in seiner Stimme. Spricht er aber von der Zeit außerhalb, schaut er aus dem Fenster und ich sehe Anflüge von unterdrückten Tränen. Er lässt nicht viel Positives an seinem aktuellen Leben. Erklärt seinen Tagsablauf, das frühe Aufstehen: „Jeden Tach um sieben und dann erstmal Frühstück“ und zeigt auf sein Bier. Das ziellose Herumfahren mit der BVG und die Tatsache, dass sich für ihn als Arbeitskraft niemand interessieren würde. Mir fällt es in diesen Momenten schwer etwas zu sagen. Darum geht es ihm aber auch gar nicht. Er freut sich einfach, zu reden und loszuwerden, ohne eine Reaktion zu erwarten. Er packt eine Anekdote nach der anderen aus und beschreibt die Dinge so detailliert und witzig, dass ich mehrmals laut auflachen muss. Ich vergesse meine Müdigkeit.
Ich fahre drei Stationen zu weit, um ihn nicht zu unterbrechen.

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5 Kommentare »

  1. mehr davon! ich will mehr! …kannste nich noch ein bißchen mit ihm mitfahren?

  2. Schöne Geschichte! Es gibt soviele davon und sowenig Zeit zuzuhören.

  3. besser: selber was erleben!

  4. ….schöne Geschichten lesen ist doch ein Erlebnis.

  5. WIR BRAUCHEN EINEN FREIRAUM!