Im Land der Zwillinge
Text: Nimrod | Ressort: Diary, Thema | 2. September 2008Du merkst, dass du alt geworden bist, wenn deine Parties am frühen Nachmittag beginnen und in einem Garten abgehalten werden. Die Musik, die aufgelegt wird, die nicht abgestellt wird, ist das Plärren einer Horde Kleinkinder. Du gehst hinaus auf den Bootssteg und aschst deine Zigarette in den See. Du trittst die Kippe in die Holzplanken. Du bildest dir ein, für nur einen kurzen Augenblick, du würdest kleine Löcher brennen, in das bedrückende Idyll, das sich deine Kommilitonen von einst hier wie auf Leinwand gemalt haben. Dabei befolgst du doch nur ihren Rat, nicht vor den Kindern zu rauchen. Du bläst Rauchringe über den See, und wenn du die Augen zusammenkneifst, kannst du dich glauben machen, die Wildenten, die sich gerade von der Wasseroberfläche erhoben haben, fliegen mitten hindurch, durch diese Ringe. Das sind die Kunststücke, die du kannst. Du siehst den Enten nach und hörst die Kinder nicht, weil sie sich auch angeschlichen haben, bis sie dich anstoßen, heimtückisch, von hinten, und kreischen wie eine losgelassene Meute nichtsnutziger, gemeiner Teufel. Aber du erschrickst nicht, du zuckst nicht zusammen, kein bisschen. Du drehst dich um. Du schaust sie an, diesen Jungen und das Mädchen, die sich so erstaunlich ähnlich sehen, und du siehst die Enttäuschung auf ihren Gesichtern, wie das garstige Grinsen ihnen aus den abwärts sich krümmenden Mundwinkeln fällt. Du schaust sie an. Du schaust durch sie hindurch.
Du schaust durch sie hindurch, und du siehst dich selbst. Nicht in ihnen, diesen Kindern, siehst du dich. Du siehst dich durch sie hindurch. Du siehst dich auf einer harten Pritsche eines schmutzigen Abteils in einem Zug, der klappernd, zitternd, entlang eines schieren Abhangs kriecht. Du siehst dich und du siehst müde aus. Du siehst dich wie du auf den alten Chinesen schaust, der an einer langen, alten und aufwändig geschmückten Pfeife zieht, und du bist froh, dass der Zug keine Fenster mehr hat. Dennoch frisst sich der barbarisch stinkende Qualm, den der Alte aus der Pfeife zieht, in deine Nase, deine Augen, deine Haut, deine Kleidung. Du glaubst längst nicht mehr daran, dass jeder Pfeife schmauchende alte Chinese, der sich nachdenklich dreinschauend über lange weiße Bartfäden streicht, die ihm aus einem gigantischen Leberfleck sprießen, ein Philosoph ist. Du willst nicht mit ihm reden. Du schaust ihn nur böse an. Und der Alte, der lächelt. Dann fragt er dich, woher du kommst. Du sagst nicht: vom Mars. Oder: vom Pluto. Oder: aus Polynesien. Das ist dir längst zu blöd geworden. Du knirschst einfach nur hervor, durch deinen wild gewucherten Bart: Deutschland. Knirschst du. Und der Alte, er nickt, als wüsste er, wo das ist. „Deutschland, Deutschland“, murmelt er „ach, Deutschland.“ Und dann: „Sag an, ist das nicht das Land, seid das nicht ihr Deutschen, die immer als Zwillinge geboren werden?“ Und du lachst, du lachst über ihn, du lachst ihn aus, diesen alten Mann, und dann korrigierst du ihn. Du sagst: „Da hat man Ihnen aber einen Bären aufgebunden“, und du hältst ihm deine Finger ganz nah vor die trüben Augen, drei Finger: „Deutsche werden immer als Drillinge geboren, immer. Drillinge.“ „Ach“, macht der Alte und zieht wieder an seiner stinkenden Pfeife.
„Hallo!“, rufen die Zwillinge durch den Rauch. „Haaaallllo!“, noch etwas lauter, obwohl du ja genau vor ihnen stehst, diese Blödgören. Du siehst nicht mehr dich selbst, du schaust sie an, die Zwillinge. „Es gibt jetzt Kaffee und Kuchen!“, sagen die beiden gleichzeitig. Sie nehmen dich, jedes Kind bei einer Hand, und sie ziehen dich zurück in den prächtig verschnittenen Garten, in dessen Mitte die große, weiß gedeckte Tafel steht wie ein Persil-Traum. Einer Hochschwangeren wird der Stuhl zurecht gerückt. „Schon wieder eine mit Zwillingen, und das in ihrem Alter – könnte fast die Großmutter sein“, zischelt dir die hagere Brillenschlange hinter ihrer nikotingelben Hand zu. Du ziehst ihr einen Stuhl zurück, bittest sie höflich, sich zu setzen. Sie lächelt ganz entzückt, um ihren runzligen, dunkelrot geschminkten Mund. Dann entschuldigst du dich und setzt dich weit weg, ans andere Ende der Tafel. Neben dir klettern zwei Bengel auf ihre Stühle, Bengel, die sich nur ähnlich sehen, weil sie ganz genau die selben Kleider tragen. „Zwillinge?“, fragst du die Frau, die ihnen kleine Stücklein Torte auf die Teller schiebt. „Ja, haha“, freut sich die Frau über die Aufmerksamkeit, und sie streicht den beiden liebevoll über die blonden Haare. „Kaffee?“, fragt sie. „Äh, nein … Wein, bitte!“, sagst du. Und sie schaut etwas bestürzt. Man sieht ihr, sorgenfaltig, für einen Augenblick ihr Alter an und nicht das junge Mutterglück. Dann bittet sie aber, „Moment!“, und läuft in Richtung der protzigen Villa und du sitzt neben zwei Kindern, die etwas missmutig die letzten Krümel von ihren Tellern stechen und du fragst: „Na Jungs, noch ein großes Stück? Oder zwei?“ Die Bengel grinsen. Wer sagt, dass du kein guter Vater geworden wärst. Du schaust hinüber, zu der verlebten Zimtzicke, Galeristin wahrscheinlich oder Redakteurin, die dir jetzt demonstrativ die kalte Schulter zeigt, und du ringst dir ein Lächeln ab, tatsächlich, das erste Lächeln des Tages, weil du an einen dummen chinesischen Bauern denkst, aus dem ein Prophet geworden ist, und weil vielleicht auch aus dir noch etwas anderes als ein Lügner werden kann.
anmerkung aus der stadt mit der höchsten zwillingsgeburtenrate des landes: „alt“=“erwachsen“ (?)
… von wegen.
Großartig !
super geschrieben.