You´re so pretty – we´re so pretty.

Text: | Ressort: Diary | 22. September 2008

Tim Burgess sieht aus wie M., als er noch jung und ein Gruftie und noch nicht ständig im Fernsehen zu sehen war. Schön wäre es auch, wenn die lustige Topffrisur hinten kürzer wäre als vorne, aber sie geht in gerade Linie wahrscheinlich genau bis zur Hälfte der Pupillen, an den Ohrrändern vorbei und hinten rum so hoch, dass er den Nacken wahrscheinlich ausrasieren musste. Er kommt auf die Bühne, ganz in schwarz natürlich, den Blick gesenkt, die Finger schon zappelnd und dann fangen sie an – entweder haben wir die Vorband verpasst oder es gab keine – die Charlatans, für mich nicht Rave-Götter meiner Jugend, ich bin so unvoreingenommen, weil ich so dramatisch zu spät geboren wurde, und damit bin ich vor allem eines an diesem Samstagabend: die Jüngste.

Auf dem Weg zum Konzert raten wir noch, wie alt wohl das Publikum sein wird, die Charlatans fingen ja an, da saß ich noch in Baumwollwindeln gewickelt in Berlins mittigem Osten und nuckelte am Daumen. Als die erste Single rauskam, trug ich eine Schultüte und tanzte nur zu Nena. Besser spät als nie finde ich mich nun auf einem Klassentreffen wieder, einem Klassentreffen einer Generation, die sicherlich nicht meine ist. Und so schüchtern wie Burgess auf die Bühne kam, so hübsch verhalten stehen auch die entweder langhaarig oder sich schon anbahnend glatzköpfigen Älteren in ihren Wollpullis herum. Sie halten sich an ihren Bieren oder ihrer Begleitung fest und grinsen sympathisch durch die Gegend, machen kein großes Aufhebens und sind angenehm zurückhaltend-nervös, als die Band die Bühne betritt. Band und Publikum sagen sich die ersten drei Lieder Hallo, winken ein bisschen und flirten, Burgess tänzelt mit den Händen in der Luft herum und streckt die Knie ordentlich durch, Bauch raus, Arsch raus, das kann er gut. Und es wird warm langsam, das Grinsen verzieht sich zu zähnezeigendem Lachen bei den meisten, die ersten Schweißperlen rollen an so manchem Dreitagebart herab.

Sie spielen die komplette „You Cross My Path“, schade nur, dass die neueste Platte kaum einer zu kennen scheint, sodass Burgess seinen Zeigefinger einer leise staunenden, wippenden Masse entgegenstreckt. Ich kann mir gut vorstellen, wie er in einem Interview bestimmt mal gesagt hat, dass es das sei, was er so vermisst habe damals beim großen Manchester-Hype (ich war auf dem Gymnasium und hatte mein erstes Jahr Englisch), als sie die Stadien spielten, den Kontakt zum Publikum, die Nähe, das Feeling oder was auch immer da abgeht. Jedenfalls braucht es keine Ordner hier, die zwei Sanitäter sitzen quatschend in der Ecke links neben der Bühne, am Ende werden sie ihre Rettungswesten ausgezogen haben und klatschen. Am Anfang erinnert mich Burgess an einen verlangsamten Duracell-Hasen, der so unermüdlich winkt und tanzt und guckt und lächelt, dass man ihm fast beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legen möchte, aber irgendwann schwappt es über, ich weiß nicht, was er gemacht hat, aber auf einmal sind alle dabei, auf einmal hüpfen die älteren Herren um mich herum, die Damen kreischen und ich kann nicht aufhören zu grinsen. Die Leute gucken und gehen ab und Burgess macht mit, knickt manchmal mit den Knien ein und sieht aus, als würde er sich am liebsten mit nach unten stellen und nach oben schauen, Teil des Ganzen sein, aber er ist dennoch ihr Kino, ihre Leinwand, die Erinnerung an all das, was war und nicht mehr ist, er kann da nicht runter, er muss da jetzt durch und stehen bleiben. Weitermachen.

Zwischen die Songs vom neuen Album mischen sie die Hits, ganz unkompliziert und ohne dieses „Früher war gestern, wir haben uns entwickelt“, der Keyboarder hat sein Vor-und-Zurück hinter seiner kleinen Kommandozentrale jahrelang geübt, der Schlagzeuger sieht aus wie ein Dorfpfarrer auf Speed. Man könnte sie so in ein Stadion zurück beamen und es würde vielleicht funktionieren, aber sich wahrscheinlich nicht so anfühlen. Burgess findet das super, wenn er sieht, wie ihm das eigene Lächeln mit Anlauf zurück geschmissen wird, wenn er die Gesichter erkennen kann, die da so eifrig johlen. Den Text der Zugabe liest er vom Zettel ab und auch das nimmt ihm niemand übel, er kann machen, was er will, sogar am Bühnenrand Red Bull trinken und nicht wie Matt Berninger eine Flasche Wein allein. Vielleicht scheint er sich deshalb so wohl zu fühlen. Weil er jetzt alles darf in diesem Licht, das aussieht wie von einem Jazz-Konzert geklaut und das er später noch dunkler drehen lässt. Ihn kennen ja eh alle. Und dann fällt er in die Verlegenheit zurück, als sie nach „The Misbegotten“ alle weitersingen, fünf Minuten vielleicht, immer wieder, als wäre das alles doch noch nicht vorbei.


Offizielle Webseite
The Charlatans bei MySpace

Tourdaten:
22.09. Berlin, Postbahnhof
23.09. Köln, Luxor
25.09. Genf, Salle Des Fetes De Thonex
26.09. Yverdon, Amalgame Club
28.09. Basel, Kaserne–Reithalle

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Ein Kommentar »

  1. […] danach die Charlatans live. Eine Mischung allererster […]