The Merzbow Chronicles Vol I

Text: | Ressort: Diary, Musik | 1. Oktober 2008

Logo Merzbow! Merzbowplatten kommen und gehen wie die Gezeiten, und so wird auch die Figur des Merzbow essentieller Teil einer neuen globalisierten Mythenwelt sein, ein unsterbliches Märchenwesen, das die Welten von Produkt und Geist in einer Art in sich verbindet, die den Beginn eines Auswegs aus Produktkultur, Eigentumsgesellschaft und menschlicher Selbstüberschätzung (aka überhöhte Idealisierung aller kulturellen Errungenschaften nicht nur der Unterhaltungsbranche) darstellt. Dem reinen improvisierten Einmannkrach wird seine heldisch weltverbessernde, heilende Kraft anerkannt. Es gibt dann Merzmusikzentren, die sich der Rettung der verlorenen Seelen, die Befindlichkeitsfokussierung und inzestuöses Gedünkel um eine Ästhetik mit Individualität und Geistesreichtum verwechseln, widmen. Kleine Mädchen tragen T-Shirts mit Merzbow-Motiven, und wir wissen ja, was das für Musik und Mode bedeutet, wenn sie bei den kleinen Mädchen angekommen sind: alle Verruchtheiten und Verheißungen sind vollständig eliminiert, die Ware ist am Bodensatz der Kundensegmente angekommen, danach kommt nur noch Wiederkäu und Verpackungsbetrug. Aber diese Regeln hat sich der Merzbowmasterplan natürlich lange vorher zunutze gemacht. Modifizierter Klang wird über die Belegung mit Attributen verkauft, die sonst den Menschen zugeschrieben werden, emotionaler Mehrwert ist der Neger der Produktwelt. Und deswegen ist Merzbow (schon lange) frei vom Kokolores seiner Marktbegleiter. Koketterie mit dem Bösen oder/und dem Genital? Fehlanzeige! Merzbow weiß, was Hörer wünschen! Seine Cover sind niedlich, seine Intentionen gehen (inzwischen) auch mit Kindern klar: Behandelt die Delfine gut! Behandelt alle Tiere gut! Bestehlt sie nicht! Quält sie nicht! Tötet sie nicht! Esst sie und ihre Produkte nicht! Und so kommt es wie es muss: Nie war PETA-Botschafter Merzbow populärer als heute. Greenpeace-Gründer Paul Watson hat übrigens die Liner-Notes für „Dolphin Sonar“ (Important Records) geschrieben. Von daher: Greif dir die LOHAS und Gutmenschheuchler, die systemimmanent bis ins Mark über die Regulierung der Künstlersozialkasse jammern, als wären Versicherungen jemals eine ehrenwerte und irgendwie erhaltenswerte Sache gewesen (Für die Angeschlageneren unter den Lesern: In einer guten Welt ist die medizinische Versorgung kostenlos für alle und das Insuranzen-System als sittenwidrig verboten). Die über in weniger bevorzugten Kreisen aufgewachsene Altersgenossen ketzen, weil sozial Schwächere immer ein gern instrumentalisiertes Feindbild für das ganze prestigesüchtige Pack waren (wird „Der Untertan“ eigentlich nicht mehr an deutschen Schulen gelesen?). Aber warum sich aufregen? Es wird sie immer geben, die kulturbeflissenen Kreise, in denen es temporär als chic gilt, ein paar stylishe Tonträger voller Liebeslieder an sich selbst von irgendwelchen elfenbeinturmgeschädigten Neurotikern rumstehen zu haben, und das ist auch gut so. Für jeden Topf gibt es die passenden Backen, die sich dann ganz weit vorne wähnen, weil der heiße Scheiß nur für sie, und alle die so sind wie sie, quillt. Und aufgrund dieser Illusion von Exklusivität und Prädestination bekommen Menschen für 3 Minuten Geplärre mehr Geld und Vergünstigungen als die blasse Frau, die jeden Morgen um 6 stumm die Oma von ihrer Scheiße befreit. An genau diesem Umverteilungsfehler muss man ansetzen. Von daher bedeutet Merzbow Verinnerlichen, zumindest zu ahnen, wer das fast einzige ethisch vertretbare Role Model derer, die zum Musikmachen um die Welt reisen dürfen, sein könnte. Den globalen Unterhaltungsmusikschwindel Lügen strafen und sich zunutze machen, ohne einen Akkord zu gebrauchen. Aus der Idee des Rattenfängers eine Marke, eine Ideologie, eine Religion, ein Imperium machen, ist nicht neu. Es so konsequent auf Sand für die Ohren zu bauen, ist bis jetzt nur Merzbow gelungen. Na gut, und allen Freunden so genannter intelligenter Tanzmusik. Aber denen sind die Delfine natürlich völlig egal. Hauptsache, man wird mit DJ Binsohip beim Knutschen gesehen. Und jetzt warten wir auf sie, die neuen Merzenkel, die den braven Langeweilern ihrer Generation mal ganz kräftig wohin treten und so die marode Welt retten wollen, anstatt die Probleme auf ihr kühn zu leugnen, indem man sich der so genannten Poetik des Alltags verschreibt, liebste Verdrängungsstrategie für ein ganzes Milieu, bornierte, vom Gardemaß des Feuilleton versaute Kultur-Karrieristen, die, noch längst keine 30, ohne sich zu schämen für den Lebenslauf leben und sich für links (wasauchimmer das bedeuten mag) und unangepasst(dabei ist das pseudoneufreiheitliche Wörtchen „Ich“ in gelben Lettern lange übers Herz gestochen, damals im Bildungszentrum für Erfolgsorientierung und Ökonomisierung der Gedankenwelt) halten und Lachshäppchen vertilgend in das Römische Weltreich imitierenden Bauten stehen und auf Bilder starren, die von offensichtlich klugen Köpfen geschaffen worden sein müssen, denn sie haben es geschafft, dass irgendwer mehr als ’nen Zehner dafür zahlt- dass an diesen Orten, besonders zu den gern hochtrabend inszenierten Eröffnungen, entweder der Merzbow oder eben irgendein MinimalKasper aufspielt, unterstreicht noch einmal das ganze tragisch-absurde Ausmaß der ganzen Misere. Hat zufällig jemand hingesehen, als aus der Kunst ein Markt und der Künstler zum Produktionshelfer wurde? Ach stimmt ja, war immer so: Welches Wort versteckt sich noch in Kredibilität? Immerhin: der Weltbevölkerung ist inzwischen dank des aktuellen US-Finanzkrisen-Hypes durch die Blume mitgeteilt worden, dass es sich bei der Idee vom Geld nur um eine aberwitzige Phantasterei handelt, Numerologie, also Schwindel, also Betrug. Deswegen ist es nur legitim, deinen Bankangestellten-Nachbarn und sein Agenturenpüppi über Nacht mit dem sehr lauten Abspielen von Merzbowtracks um Schlaf und Verstand zu bringen, damit er am nächsten Tag übermüdet Fehler macht und so sein Lügensystem mit in den Ruin reißt. Politik der kleinen Schritte. Also, liebe Sparer und Investmentfreaks, fangt an umzudenken. Kehrt den Finanzsektierern den Rücken und kauft lieber die Merzbox. Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht, ihr Scheißefresser: Ganz viele Merzbowplatten kaufen ist nicht die Absolution für den Konsumenten im Menschen, nicht die Brechung von Habsucht und künstlich induzierter Gier nach Waren. Der Weg ins Merzvana ist ein zwar komprimierter, konvertierter, aber dennoch langer, mühsamer Pilgerpfad, den man sich voller Hingabe erschließen muss. Ja: Blut muss fließen, brennen muss es. Einfach mit der Bahn zum Ziel fahren und dann so tun, als wäre man den ganzen Weg gegangen, führt zur sofortigen Disqualifikation, inklusiver menschlicher und fachlicher Entkredibilisierung. Denn noch sagen für ihr Verständnis zwar kluge, in Wirklichkeit also dumme Zungen, Merzbowplatten stumpfen ab, dabei weiß doch jeder, der sie konsumiert, wie sie die Sinne schärfen. Wie es, wenn man fleißig dabei bleibt, ganz im Sinne des Brian Eno zur Auflösung eines porösen Ziegendarms namens Hörgewohnheit kommt und die gewohnten drei Akkorde auf einmal drei peinlich prätentiöse zuviel sind. Wie sich die Nackenhärchen aufstellen, man sich einfindet in den anfänglichen Krach und hineinhorcht in mikroskopische Zufallsordnungen, die den Hörer abfedern machen an der Klangwand, an der Höhen und Tiefen plötzlich andere Bedeutungen erlangen, narrative Ozeane des Lärms entstehen, verschwindend winzig springt am Horizont ein Delfin über den Sandstrahl der Zeit. Wenn dann irgendwann wieder die Stille einkehrt, erscheint das Ticken der Uhr monströs und aller Rettich, genossen am wärmenden Feuer lodernder Bankautomaten, lecker wie dereinst die in Brennnessel gewickelten Lachshäppchen, die ihnen vom Befreier selbst in ihre Öffnungen gerieben wurden, bei vollem Bewusstsein…

(Demnächst in diesem Theater: Truthcult presents: Merzbow vs Porn).

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3 Kommentare »

  1. Was für eine phantastische Rezension. Vergesst die Platte, lest diesenText!

  2. http://www.viceland.com/germany/v2n7/htdocs/lau.php

  3. was für ein Text