Echt ahnungslos – Eine etwas andere Replik
Text: Jensor | Ressort: Allgemein, Media, Musik | 25. August 2010Wie es eben so ist mit der Offenheit auf alle Kanälen – irgendwie cool, aber auch irgendwie zwiespältig. Und wenn es denn etwas gibt, das auf allen möglichen Kanälen verhandelt wird, ist dies Pop (oder meinetwegen auch Popkultur). In allen Erscheinungsformen – Bild, Ton, Style, Attitude und so weiter und so fort – und in allen Diskussionsformen und -farben. Nun ist es ja grundsätzlich eine feine Sache, dass die Auseinandersetzung mit Pop von einem gewissen DIY-Spirit durchsogen war, nach dem man sich durchaus problemlos das Recht herausnehmen konnte, seine Meinung nicht nur zu haben, sondern auch freimütig zu äußern. Eine Welt abseits des elitären Feuilletonistentums, bei dem sich Fachkenntnis auf eine ganz andere Art und Weise zu entäußern hatte, die aber – lustigerweise – auch schon wieder ganz eigene Formen und Vorstellungen von elitären Denken mit sich brachte. Die sich dann aber eben nicht in Form von absolvierten Studienjahren äußerten, sondern sich speisten aus einer Mixtur aus Fantum/Hingabe, Involviertheit und nicht zuletzt aus Bescheidwissen/Background. Gerade letzteres ist (und bleibt wohl auch auf absehbare Zeit) die entscheidende Nagelprobe, an der sich die Grenze zwischen dem „weißen Rauschen“ auf allen Kanälen und jenen Äußerungen, bei denen es sich zumindest für mich lohnt aufzumerken, ziehen lässt. Popkritik braucht keine Ausbildung, dies stimmt. Was aber kein Plädoyer für Kenntnislosigkeit sein soll.
Es gibt da einen Artikel via „Jetzt“ online, dessen Aussage sich im Wesentlichen darauf reduzieren lässt, dass das heilige Abendland wegen der Popkultur im Allgemeinen und den Popmusik-Videos im Besonderen aufgrund allgemeiner Verrohung vor dem endgültigen Untergang steht und ein Zeitalter der vollkommenen Dekadenz droht. So weit, so langweilig. Ich persönlich halte es da mit jenem Autor, der einmal in einer Ausgabe des famosen, leider eingestellten Jahrbuch gewordenen Personen-Bashings „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht“ einmal äußerte, dass er nunmehr schon seit Jahrzehnten ebenso sehnsüchtig wie vergeblich auf die prophezeite und versprochene Dekadenz warte. Allerdings bietet Franziska Finkenstein mit „Nacktheit, Sex und Blut. Über die Verrohung des Musikvideos“ einen trefflichen Anschauungsunterricht dafür, auf welch schlammige Pfade die Popkritik auf der Basis eines eher unsoliden Halbwissens führen kann. „Im Elektro/Dance Genre war es zuvor eher unüblich, mit extremer Bildsprache zu arbeiten“, wird beispielsweise erklärt (prompt wird ihr dann auch das offenkundigste aller Beispiele mit „Smack My Bitch Up“ in den Kommentaren um die Ohren gehauen). Was herrscht da eigentlich für eine Vorstellung vom „Elektro/Dance Genre“? Was soll ich bitte schön davon halten, wenn die Band Health im höchst anklagenden Unterton geradezu dafür angeprangert wird, mit der Bildsprache von Splatter-Filmen zu agieren? Wir reden hier über Noise-Rock! Über eine musikalische Sparte, die einen nicht gerade geringen Teil ihres wahlweise faszinierenden oder abstoßenden Potential daraus bezieht, absolute Grenzbereiche auszuloten – in jeglicher Hinsicht. Musikalisch, inhaltlich, ästhetisch. Und da sind Health auch mit einem Video wie jenes zu „We Are Water“ in guter Noise-Gesellschaft, wenn ich dann nur mal an die Japan-Fraktion von Hanatarash, Violent Onsen Geisha oder Merzbow denke. Oder an die wackeren Herren von Unsane, die man sich ohne Blut auf dem Cover gar nicht vorstellen kann (und die mit „Scrape“ anno 1995 ein Video über die eher schmerzhaften bzw. nachhaltige Schäden hinterlassenden Seiten des Skateboardens drehten, das es gar bis in die MTV-Rotation schaffte). Von solchen absoluten Grenzgängern wie Genesis P-Orridge und seinem Schaffen von Throbbing Gristle bis Psychic TV möchte man da gar nicht erst anfangen.
Wie gesagt – eigentlich ist das Thema sterbenslangweilig. Das Hantieren mit expliziten, provokanten, schockierenden, nonkonformen Inhalten und Bildern ist so alt wie die Popmusik selbst. Laibach kommentieren beispielsweise musikalisch und ästhetisch den Totalitarismus und bedienten sich entsprechender Symboliken auf eine Art und Weise, die sich eindeutigen Definitionen entzog. Die Melodic-Core-Band Chemical People positionierte sich wiederum absolut eindeutig und unmissverständlich als Hardcore-Porno-Fans (weniger aus Provokation, dies war eher, ähem, ehrlich gemeint) und setzte folgerichtig die Porno-Darstellerin Tajia Rae auf das Cover der zweiten Platte „Ten Fold Hate“ – 1989 wohlgemerkt (und das Beiblatt erst, hohoho. Ja, ich habe diese Platte). Die Schweden-Todesbleier Dismember warteten zwei Jahre später mit dem Song „Skin Her Alive“ auf und posierten auf dem dazugehörigen Backcover von „Like An Ever Flowing Stream“ ordentlichst Kunstblut-überströmt. Aphex Twin aka Richard D. James servierte uns Blasswerdenden im Bunde mit Chris Cunningham ein paar echt verstörende Videos („Come To Daddy“, oh, echt übel, der Stoff), die bis auf den heutigen Tag ziemlich nachhaltig wirken, wie ich als Erfahrung vom Melt! 2010 mitbringen konnte. Was mir als Cunningham-Ästhetik-Gestählten gerade einmal ein Nicken entlockte, wurde vom (jugendlichen! Wohlgemerkt!) Besucherpulk nebenan mit einem erstaunt-entsetzten „Oah, das ist ja ECHT krank!“ kommentiert. Und so weiter und so fort. Die ganz offene und offenkundige Sexualisierung von House könnte man reden. Und über die breite Spur, welche die Splatter- und Gore-Ästhetik durch die Pop-(Musik-)Kultur gezogen hat, könnte Freund Donis mit Sicherheit einen abendfüllenden Vortrag gestalten.
Das ist also ein ganz schön altes Spiel, dieses Spiel mit dem Schrecken, dem Schockierenden, dem Provokanten, dem ganz und gar nicht Gesellschafts- bzw. Konsensfähigen. Und man spielte es aus den verschiedensten Intentionen: Um Aufmerksamkeit zu erregen und damit kommerzielles Potenzial zu erschließen, beispielsweise. Das Modell der „Zehn nackten Friseusen“, der Furz-Klingeltöne, der Ke$ha-Hypersexualisierung und des Rammstein-Pornos. Und um mit dieser Aufmerksamkeit zu arbeiten, Inhalte und Ästhetiken breitenwirksam zu transportieren, Dinge in Frage zu stellen. Das Modell Madonna. Weil man simplen, gerne auch infantilen Spaß daran hat und sich unterm Strich über die Außenwirkung nicht wirklich Gedanken gemacht hat. Das Modell Chemical People oder – etwas neuzeitlicher – Uffie. Weil es einfach dazu gehört wie die Nietenlederjacke. Das Modell Death bzw. Black Metal. Weil man der jeweiligen Ästhetik einfach verfallen ist und aus dem entsprechenden Umgang damit einen künstlerischen Gewinn zieht. Das Modell Noise-Rock/Industrial. Weil man anders sein will. Das Modell Motörhead-Outlaw bzw. Suff-Punk. Weil man anders IST. Das Modell Genesis P-Orridge. Ein Modell-Spielchen, das sich bis ins Unendliche weiter treiben ließe. Es wäre ein bisschen langweilig, wenn man sich jetzt nur an dieser leicht muffigen, dezent verspießert und unbedingt CDU-Mittelstandsvereinigung-geprüft wirkenden Darstellung (oder wie soll man die Reaktionen auf ein gelinde gesagt harmloses Video wie „Kids In Love“ von Mayday Parade sonst auslegen?) abarbeiten würde – es sei denn, man möchte sich daran erfreuen, dass jene Provokationsmechanismen, die bei mir schon seit Jahren nicht mal mehr ein herzhaftes Gähnen auslösen, scheinbar immer noch funktionieren. Marilyn Manson, übernehmen Sie.
Es ist aber schmerzlich, wenn man solche Modelle nicht kennt und sich dennoch berufen fühlt, den großen Gleichmacher rauszuholen. Popkritik hat ja zumindest in meinem Verständnis schon etwas mit Differenzierung zu tun. Ich meine doch, dass man Dinge wie eine popkulturelle Eigeninszenierung, die nach ausschließlich kommerziellen Gesichtspunkten funktioniert, strikt trennen sollte von einer Pop-Ästhetik, die sich beispielsweise in einen politischen/gesellschaftlichen/sozialen Kontext einordnen lässt (wie auch immer dieser geartet sein mag. Ich sage dies bar jeglicher Wertung). Konkret am Beispiel gesagt: Ich finde den Link nicht zwischen Lady Gaga und Xiu Xiu. Ich vermag keinen Zusammenhang zwischen „Alejandro“ und „Dear God, I Hate Myself“ zu erkennen. Was hat die Revue-Inszenierung von Sex, gewürzt ein bisschen Uniformfetischismus und Waffengeilheit sowie einer anständigen Prise popkulturell griffiger Symbolik (dies muss man Stefani Joanne Angelina Germanotta ja mal neidlos zugute halten – dieses Spiel der Symboliken ohne echte Substanz beherrscht sie trefflich) zu tun mit einem Video, das sich auf entwaffnend drastische und mithin intelligente Art und Weise mit Dingen wie Bulimie und/oder Schönheitsidealen auseinandersetzt? Und es tut mir richtig weh, wenn eine schnurgerade Linie gezogen wird von der Bundesfamilienministeriumskompatibilität des „Egoshooter“-Videos zu dem „Born Free“-Film von Romain Gavras, der eine Vision mit hochpolitischer Brisanz transportiert. Es geht mir auf die Nerven, mit so etwas konfrontiert zu werden – es ist mit den Maßstäben der Literaturkritik gemessen ungefähr das Gleiche, als wenn ich Norman Mailers „Die Nackten und die Toten“ auf eine Stufe mit einem x-beliebigen Landserheftchen stellen würde und zwar nur deshalb, weil es in beiden Druckerzeugnissen um den Zweiten Weltkrieg im weitesten Sinne geht. Womit ich wieder beim erwähnten elitären Denken wäre – und wie ich dafür bin, dass sich derlei in der Auseinandersetzung mit Pop bitte schön erhalten möge, ebenso wie der auch schon erwähnte Drang zur Nonkonformität. Damit auf den offenen Kanälen nicht ausschließlich das „weiße Rauschen“ der Gleichmacherei kommt, obwohl sich die Diskussionen über Differenz und Differenzierungen so wunderbar lohnen würden. Mal abgesehen davon, dass sich mit dem „weißen Rauschen“ des „Alles eine Brühe!“ auch nicht mehr herausfinden oder besser gesagt herausdiskutieren ließe, wo die schmale, manchmal kaum wahrnehmbare Grenze liegt zum offenen, ungebremsten Gewaltfetischismus, zum Faschistoiden, zum Rassismus. Dies war ja eigentlich auch mal ein grundlegendes Anliegen von Popkritik „wie wir sie kennen und mögen“ (ähem).
Vielleicht liegt genau darin ja die Chance von jener Popkritik „wie wir sie kennen und mögen“. Und das oft vermisste Abgrenzungspotenzial zur Feuilletonisierung auf der einen und der Trivialisierung auf der anderen Seite. Zwei Ansätze, die ich im Übrigen gleichermaßen anstrengend finde, weil das eine den „Spaßhaber“ in mir beleidigt und das andere den „Bescheidwisser“. Klingt nach irritierender Widersprüchlichkeit, aber genau diese irritierenden Widersprüchlichkeiten machen doch den Reiz von Pop aus, der sich Eindeutigkeiten immer wieder erfolgreich entzieht (siehe Lady Gaga) und damit doch eigentlich jede Menge verschiedener Spielwiesen eröffnet. Spielwiesen für Ästhetik-Debatten beispielsweise. Für das Einordnen in Kontexte, die sich dem erwähnten Nonkonformismus verpflichtet fühlt – in politischer, ästhetischer, kultureller, sexueller, gesellschaftlicher Hinsicht. Für die Diskussion über diese Kontexte und diese Ansätze von Nonkonformismus. Das macht Spaß und da kann uns irgendwie auch keiner folgen. Weder die Trivialen, die gar nicht auf den Gedanken kommen, dass es auch mal um mehr gehen könnte als um enge Hosen, das bißchen Rausch am Samstagabend und ansonsten um jede Menge Ruhm, Kohle und Business. Noch die Feuilletoner, die ernsthaft meinen, man habe Heavy Metal jener Bauart, wie ihn die Formation The Sword spielt, lange nicht mehr gehört und sei damit einer Band auf der Spur, die Black Sabbath und Led Zeppelin beerbe. Puh, dies muss man auch erst einmal sacken lassen (ehe man laut loslacht). Und erst recht nicht all jene, die Popkultur für ein Studienfach halten oder in der Popkritik „wie wir sie kennen und mögen“ so etwas sehen wie den Kulturjournalisten mit dem Habitus des distanzierten „Bescheidwissers“ und Vorkosters. Nönö, liebe Leute, da hat schon wieder einer nichts verstanden: Über Kulturjournalismus lachen wir nur. Das mit dem Bescheidwisser nehme ich immerhin gerne als Ehrenbezeichnung an, nur diese Sache mit dem „distanzierten“ überlassen wir lachend mal schön dem Kulturjournalismus (wobei ich übrigens eher den zitierten Herrn Porombka als weniger den Autor an sich meine; der Artikel selbst hat so einiges Bedenkenswertes).
By the way: Ich will hier nicht mal in dieses Horn tröten, auf dem „typisch Holzmedien“ steht; von wegen Süddeutsche Zeitung und so. Es ist meist ein unschönes Geräusch, das diesem entweicht (was ein anderes Thema ist, über das an dieser Stelle mit Sicherheit auch noch zu reden sein wird). Und zudem sind die gespielten Lieder oft auch noch grundlegend falsch – wie in vorliegenden Beispiel. Eigentlich sollte man nach dem Abklopfen des Backgrounds meinen, die Autorin wäre irgendwie eine von den Guten (oder wahlweise Bösen, ganz nach Lust und Laune). Zumindest denke ich dies, wenn ich mir mal durchlese, was der Blog aufgemischt.com, an dem sie als „Gründungsautorin“ mitwirkt, als Selbstbeschreibung auftischt. „aufgemischt!com begreift sich als ein unabhängiges, nichtkommerzielles, deutschsprachiges DIY Onlinemagazin für kreative und innovative Musik aus aller Welt. Nachdem Ende 2007 das erste Interview geführt wurde, entstand im Frühjahr 2008 die erste Version von www.aufgemischt.com, der im März die derzeitige WordPress-Version folgte. die bis heute kontinuierlich weiterentwickelt wird. Seitdem ist aufgemischt! ein Blog. September 2009 gewann aufgemischt! den Dazed Digital RAW Blog Award 2009 in der Kategorie “Music”.“ Gerade deshalb ist die Kenntnislosigkeit, der vollkommen fehlende Background, das hochgradig ausgeprägte Unverständnis dafür, warum Menschen Musik (und damit auch Texte, Videos usw. usf.) außerhalb kommerzieller und monetärer Ambitionen machen, die totale Abwesenheit eines wie auch immer gearteten Pop-Nonkonformismus so erschreckend.
Noch mal btw: Offenbar hat der Beitrag nicht nur mich schwer genervt.