Das Phonographische Solo – die ganz große Wurstplatte

Text: | Ressort: Radio | 1. Juli 2011

Herr Jensor hat heute mal wieder das außerordentliche Vergnügen, euch die  hörenswertesten Neuerscheinungen der vergangenen Monate aufzutischen. Das könnte – nein, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder laut und richtig gut! Also, einschalten und mitschlemmen.

Die kommentierte Playlist

1. Orange Goblin – No Class (von “Orange Goblin” 5-CD-Box/Rise Above)

Jeder aufrechte Rocker (oder zumindest jeder, der sich dafür hält) sollte diese 5-CD-Box eigentlich daheim haben. In einer vernünftigen, anständigen und gerechten Welt wären die Jungs um Ben Ward Superstars, finde ich. Warum, lässt sich anhand der fünf Rise Above-Veröffentlichungen – die noch mit allerlei Bonusmaterial wie eben diesem Motörhead-Cover angedickt wurden – trefflich nachvollziehen: Vom raumgreifenden psychedelischen Stoner-Rock bis zum punk-lastigen Wutanfall ist alles dabei. Und live sind die eh nicht zu schlagen.

2. Tombs – To Cross The Land (von “Path Of Totality”/Relapse)

Du willst das feine Rummsen in der Rübe? Den ordentlichen Krawall? Dann willst du Tombs! So einfach ist das. “Path Of Totality”, die neue Platte auf Relapse, rockt mich mit genau jener stilvoll angerührten Mixtur aus Metal-verhafteten Punch, Was-auch-immer-für-ein-Core-inspirierter Direktheit, sludge-mäßiger Dreckigkeit und atmosphärisch finsterster Düsternis, mit der man mir ja stets in die Tasche kommt.

3. Across Tundras – Hijo De Desierto (von “Sage”/Neurot)

Freund Nauber war davon nach eigener Aussage nicht beeindruckt. Ich zunächst allerdings auch nicht. Ach ja, das klagende Singen der Endzeitgitarre. Doch dann waren diese neun Songs rum und ich dachte mir nur: „Meine Fresse, was für eine Sensation! Was für eine staubige Wüsten- und Country-Attitude! Was für ein Crossover! Was für eine Pracht!“ Ich stelle fest: „Sage“ will wieder und wieder gehört werden – ganz egal, was das klagende Singen der Endzeitgitarre zum Einstieg auch für Erwartungen wecken mag.

4. Enablers – Career-Minded Individual (von “Blown Realms And Stalled Explosions”/Exile On Mainstream)

Natürlich musst du das Prinzip der Enablers grundsätzlich erst einmal mögen. Diese Verbindung von Poesie und (Rock-) Musik schafft nicht mehr und nicht weniger als eine Songstruktur, die sich nun mal nicht an die klassischen Hörgewohnheiten hält – und manchmal einen Spannungsbogen zieht, der sich nicht auf den ersten, oberflächlichen Höreindruck erschließt. Wenn du es nicht magst, kommst du damit niemals zurecht. Für all jene, die es mögen: Nie zuvor klangen die Enablers dergestalt zwingend, intensiv und direkt. Was möglicherweise an Neudrummer Doug Scharin liegt. Oder vielleicht auch daran, dass Pete Simonelli noch einen deutlichen Schritt näher an dein Ohr heran gerückt ist.

5. Schnaak – Birds And Grains (von “Wake Up Colossus”/Discorporate Records)

Aktuell meine zwei Lieblings-Verrückten: Johannes Döpping und Mathias Jähnig bändigen musikalische Monster und machen sie für mich handzahm – herrje, werde ich auf meine alten Tage noch zum Fusion-Fanatiker und Funkrocker? Nun, zumindest, wenn die ganze Chose am Ende des Tages so irrwitzig klingt wie auf „Wake Up Colossus“, bin ich dabei!

6. Moon Duo – When You Cut (von “Mazes”/Souterrain Transmissions)

Kraut, Kraut, Kraut. Und nochmal Kraut, Kraut, Kraut. Musiker hören den Begriff nicht so gerne, hab ich gehört. Ich bin aber kein Musiker. Und ich habe gehört, dass Kraut eine Renaissance erlebt. Darüber musste ich lachen. Ripley Johnson (von Wooden Shjips) und Sanae Yamada aka Moon Duo sind erneut ein trefflicher Beweis, dass Kraut nie wirklich weg war (ebenso wie Stereolab, Mouse On Mars usw. usf. schon vor vielen, vielen Monden). Übrigens: Kraut als musikalischer Begriff fetzt so, weil man ihn mit allen möglichen Inhalten füllen kann – was Moon Duo auf wiederum erfrischende Art und Weise machen. Nochmal übrigens: Zu „Mazes“ gibt wohl auch schon eine Remix-Platte mit allerlei obskuren Beteiligten wie Psychic Ills, Cave, Purling Hiss oder Gary War.

7. Popol Vuh – Through Pain To Heaven (Dopeful Vuh) Mouse On Mars Remix ( von “Revisited & Remixed”/SPV)

Julian Cope – ja, genau der vom „Krautrocksampler” – hat vor wirklich geraumer Zeit im Spex mal von dem Ehrfurcht einflößenden Moment gesprochen, den allein schon der Name Popol Vuh ausstrahlt. Da ist was dran – immerhin geht’s ja hier um das heilige Buch der Quiche-Maya. Mithin: Die vorliegende Doppel-CD (übrigens wohl einer der Auslöser der „Kraut-Renaissance“) widmet sich weniger dem Best Of-Rosinenpicken als mehr um das Aufzeigen der Verbindungen zur Jetzt-Zeit. Deshalb wohl auch die Songauswahl auf der Revisited-CD, die sich dann doch am avantgardistischen bzw. Moog-geprägten Schaffen von Popol Vuh orientiert, die dann doch bis in die Neuzeit abstrahlt. Auf der Remixed-CD wagt sich eine illustre Riege von Peter Kruder über Thomas Fehlmann, Alex Barck, Moritz von Oswald, Mouse On Mars bis Stereolab ans Ausgangsmaterial – mit durchaus wechselhaften Erfolg. Trotzdem Danke für diese „Ins-rechte-Licht-Rückung“.

8. When Saints Go Machine – Church And Law (von “Konkylie”/!K7)

Eine feine Sensation aus dem Nichts: When Saints Go Machine kommen aus Dänemark und haben mit „Konkylie“ eine Platte vorgelegt, die auf ausgesprochen angenehme Art und Weise altmodisch ist. Altmodisch im Sinne von Poesie. Und dabei gibt sie sich trotzdem einem Electro-Pop-Soundverständnis hin, dass mühelos im Jetzt und Hier verortet werden kann. Ich würde mal sagen: Geschmäcklerisch im positivsten Sinne definiert.

9. Ada – Happy Birthday (von “Meine zarten Pfoten”/Pampa Records)

Argh, ist das schön! Schon „Blondie“ habe ich verehrt, nun sinke ich vor Michaela Dippel endgültig auf die Knie. Was können einem da für Worte einfallen? Zärtlichkeit selbstverständlich. Oder vielleicht auch Feinsinnigkeit. Pop. Techno. Was sich ja übrigens niemals gegenseitig ausschließt, dies muss ich an dieser Stelle einmal loswerden. Und: Was Koze mit seinem Pampa-Label macht, ist einfach nur spektakulär. Mein Tipp: Einfach alles kaufen. Alles!

10. Marian – Letter (von “Only Our Hearts To Lose”/Freude am Tanzen)

Gleich hinterher noch so ein Techno-Überflieger von einem herzallerliebsten Label: Mit „Only Our Hearts To Lose“ schenkt mir Freude am Tanzen eine wachechte Heavy Rotation-CD. Marek Hemmann und Sänger Fabian Reichelt feilen auf eigene Art und Weise ebenfalls an diesem Gleichnis Techno und Pop, verbinden dabei versonnenen Minimalismus und große Gesten.

11. Africa HiTech – Light The Way ( von “93 Million Miles”/Warp)

Hinter Africa HiTech stecken Mark Pritchard und Steve White – den einen kennt man eventuell als Harmonic 313 und vor allem als Acid-House-Produzenten, den anderen als Steve Spacek von eben Spacek. „93 Million Miles“ ist ein Ereignis und zwar im besten kosmischen Sinne, worauf nicht nur der Albumtitel schließen lässt. Das fühlt sich an wie ein modernes Update des Outta Space-Cosmic Funk-Konzepts auf Dubstep-Dancehall-Techno-Breakbeat-Styles.

12. Shabazz Palaces – An Echo From The Hosts That Profess Infinitum (von “Black Up”/Sub Pop)

HipHop auf Sub Pop. Ja, so hat sich unsere popkulturelle Welt verändert. Vor allem, weil es sich hier nicht um geschmäcklerischen Weißbrot-HipHop handelt, der durch den Rock-Verstärker gezogen wurde. Hinter Shabazz Palaces steht vor allem Ishmael Butler, einst als Butterfly bei den Digable Planets zugange. Daraus allerdings eine Soundverwandtschaft zu konstruieren ist völliger Blödsinn – hier würde ich als Bezugspunkt nicht den jazzy Style heranziehen, sondern eher eine gewisse atmosphärische Nähe zu Dingen wie dem Crooklyn Dub Consortium ausmachen. Jedenfalls ist hier Darkness angesagt und dies ist nie das Schlechteste.

13. Frank Ocean – Swim Good (von “Nostalgia/Ultra”/self-released)

Hinter dem Synonym steckt ein Herr namens Christopher Breaux, Teil des Odd Future-Kollektivs, das zu pushen ich hier nicht müde werde – Tyler The Creator ist ja inzwischen aus der Blogosphäre in die breite öffentliche Wahrnehmung getaucht. Frank Ocean gibt uns den R’n’B-Crooner im OddFutureWolfGangKillThemAll-Kontext und greift dabei in bewährter, hier aber auch ziemlich stilsicherer Manier ins Regal der bekannten Melodien – ich sage nur „Electric Feel“.  Insofern ist „Nostalgia/Ultra“ ein sehr angenehm groovendes Stück Musik, das wohl auch demnächst im „Overground“ auftauchen wird: Def Jam will das Ganze dem Vernehmen nach demnächst rereleasen.

14. Ghost Of Tom Joad – Firing Line (von “Black Music”/Richard Mohlmann)

Respekt, meine Herren. Ehre, wem Ehre gebührt. Mit Ghost Of Tom Joad konnte ich nie etwas anfangen, weil mir diese omnipräsente Indie-Emotionalität stets auf die Nerven ging. Die Emotionalität ist noch da, aber das Drumherum ist anders. „Black Music“ überrascht mit R’n’B-Referenzen und Mut zum Pop der klassischen Prägung, hat dazu ein feines Songwriting mit griffigen Hooklines zu bieten – daran höre ich mich doch zu gerne fest.

15. Cornershop – Don’t Shake It (von “Cornershop And The Double-O Groove”/Ample Play)

Die sind zurück in meinem Kopf: Den Vorgänger „Judy Sucks A Lemon For Breakfast“ habe ich kopfschüttelnd wieder zurückgestellt (warum, weiß ich irgendwie auch nicht mehr), mit der neuen Platte hat mich Tjinder Singh aber wieder voll am Schlafittchen. Weil ich anfällig bin für diesen Sitar-Kitsch, dem sich die Band so voll und ganz stellt? Weil sie keinerlei Angst hat vor irgendwelchen Klischees und Überzeichnungen und vermutlich genau deshalb viel näher dran ist an der Authentizität als alle Historien-Fetischisten? Keine Ahnung. Wirklich mysteriös ist nur, dass ich Bollywood eigentlich überhaupt nicht ausstehen kann.

16. Gang Gang Dance – Adult Goth (von “Eye Contact”/4AD)

Alles, was an feinen Dingen über diese Platte geschrieben wurde, stimmt einfach mal. So easy kann es manchmal sein. „Adult Goth“ ist ein Stück zum Wahnsinnigwerden – vor Glück, selbstredend. Hie und da wurde es schon angedeutet: Das Geheimnis der sich neu erfindenden Gang Gang Dance ist die Gleichzeitigkeit des Vielen. Der irrwitzige Überfluss. Womit klar sein sollte: „Eye Contact“ ist definitiv und absolut nix zum Nebenbeihören.

17. John Maus – The Crucifix (von “We Must Become The Pitiless Censors Of Ourselves”/Upset! The Rhythm)

John Maus, der Mann, der uns unsere eigene Banalität immer so schmerzlich um die Ohren schlägt. Und der uns immer wieder aufzeigt, dass Electro-Pop und Massenkompatibilität, gar Mainstream absolut und unbedingt keine Synonyme sind. Und dass man sich mit einer gewissen Retro-Verbundenheit nicht ins Abseits ballern kann, wenn man das Ganze mit eben jener ergreifenden Portion Dramatik und Verletzlichkeit anreichert.

18. Iceage – New Brigade (von “New Brigade”/Tambourhinoceros)

Noch eine dänische Überraschung – wer hätte schon gedacht, dass sich dem Joy Division-Erbe noch einmal so eine Platte entreißen ließ? Nun, Iceage haben sich darauf besonnen, dass dies ja alles ursprünglich mal was mit Punk zu tun hatte. Mithin nicht mit Konsensbildung. Entsprechend rau klingt das Ganze, versehen mit einer anständigen Hardcore-Attitude und garniert mit echter Eiseskälte. Echt beeindruckend.

19. Fucked Up – Queen Of Hearts (von “David Comes To Life”/Matador)

Wenn Punk zur Oper wird, ist der Ofen endgültig aus. Dachte man gemeinhin. Dass dies nicht stimmt, beweisen – aber nein, so kann man dies nicht sagen. Fucked Up zelebrieren eben diesen Beweis, dass dies so nicht stimmt. Mit einer Punk-Oper, die einen sowohl die Tatsache vergessen lässt, dass man mit dem Prinzip Oper bis dato nicht gar so viel anfangen könnte, als auch den Fakt, dass Punk genau genommen schon so tot ist, dass er gar nicht mehr streng riecht. Wie gesagt: Nach dem Genuss dieses berstenden Energiebündels namens „David Comes To Life“ überdenkt man beide Punkte ausgesprochen gründlich.

20. Arnaud Rebotini – Another Time Another Place (von “Someone Gave Me Religion”/Blackstrobe)

Arnaud Rebotini, ja, der von Black Strobe, lässt es auf seiner zweiten Solo-CD erwartungsgemäß anständig krachen. Electroclash ist out? Pfff, da lassen wir doch einen drauf – entsprechend munter holzt sich der Gute durch die unvermeidlichen Eighties-Attitudes, wuchtige Beats, Acid-House-Gedringel und Indie-Disco-Schmissigkeit. Abgeschmeckt mit feinstem Pop kommt etwas heraus, dass ich mir zu gerne genehmige.

21. Digitalism – 2 Hearts (von “I Love You, Dude”/V2)

Und ob dies auf Gegenseitigkeit beruht mit diesem Lienhaben! Ich liebe diesen klaren, direkten, unbeirrbaren Pop-Scheiß, der in erster Linie einfach nur Pop sein will. Gut, die Dancefloor-Attitude mag ein wenig über diesen Selbstzweck Pop hinaus weisen, aber eigentlich gehört dies mittlerweile zum guten Ton ja dazu. Ansonsten haben mir Digitalism eine Platte geschenkt, die mich einfach nur glücklich macht. Mir ein Lächeln auf‘s Gesicht zaubert und Bock macht, mal wieder eine Nacht durch zu tanzen und zu trinken.

01.07. Radio Blau, 21 Uhr

Generell: PNG ist jeden zweiten Freitag von 21.00 bis 23.00 Uhr auf Sendung. Im Wechsel finden entweder Das Phonographische Quartett, bei dem vier Redakteure vier aktuelle Veröffentlichungen vorstellen, oder Spezialsendungen zu unterschiedlichen Themen (Labels, Festivals usw.) statt.

Radio Blau In Leipzig: auf UKW 99,2 MHz, sowie: 94,4 MHz & 89,2 MHz (Karte) und 97,9 MHz (primacom Kabel) Online: www.radioblau.de oder gleich im Stream

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