Himmel oder Las Vegas
Sankt Otten

Text: | Ressort: Musik | 8. Juni 2012

Am ersten Tag tauche ich ab in ein Moor, Sumpf, Trockenfluß, Salzpfanne. Ich zitiere Gore Vidal. Ich gebe der Neuen Musik eine Chance – wenn die Kleiderordnung weiterhin lax gehandhabt wird.

Wer macht denn den Dreck weg, wenn es Blut regnet?

Haben Sie von Ivan Illich gehört, der in Mexiko, Cuernavaca wirkt? Er hält viel von dem revolutionären Klerus in Latein-Amerika. Wir auch.1

Und, wer kann einspringen, wenn das Brot nicht ausreicht die Carcrashs aufzutunken?

Da gibt es doch Sankt Otten, höre ich mich sagen.

Etwas, das klingt wie die apokalyptischste Transzendentalmusik seit der Erschaffung des legendären Blade Runner-Sondtracks. Und damit ist nicht das offizielle und verkitschte Soundtrack-Album gemeint, sondern der Original-Film-Soundtrack.

Etwas, das klingt, wie ein größenwahnsinniger Jan Hammer, der gerade die Musik zur neuen Staffel von Miami Vice entwirft und die kolossalen, aber überwiegend netten Sounds von Vangelis, Jean Michel Jarre oder Mike Oldfield dabei zu Black Pudding verwurstet. Als ginge es ihm darum mit jedem Track eine Stars-On-45-Single des Prog-Rock aufzunehmen und gleichzeitig nahtlos an alte Mahavishnu-Zeiten anzuknüpfen.

Die Arrangements und Melodien erinnern überdies an wunderschön depressiv-zuckerige Werke wie „Darklands“ von The Jesus & Mary Chain, „Black Celebration“ von Depeche Mode, oder „Heaven Or Las Vegas“ der Cocteau Twins. Ohne verwechselbar zu klingen. Auf die Grundstimmung kommt es an. Und auf die Maxime: Ein neuer Tanz, ein neuer musikalischer Ausdruck, kann bedrohlicher werden als jede Kritik.2

Etwas Dunkles, Abseitiges schwingt darin. Drängt aber nicht in den Vordergrund oder wird gar als Attitüde vorgetragen. Was den Genuß auf eine romantische Ebene hebt, die eine heiter-melancholische Distanz zur Realität entstehen lässt. Dream-Pop, sage ich gerne, wenn dies als Qualitätssiegel verstanden wird.
Sankt Otten passen eigentlich nicht in gängige Schubladen. Sie haben aber unzählige Berührungspunkte mit Techno, Ambient, Experimenteller Elektronik, Hamburger- wie Berliner-Schulen – „Die Stadt riecht nach Dir“ – sowie Krautrock. Also, mit Gruppen und Leuten wie Klaus Schulze, La Düsseldorf, Kraftwerk oder M83.

Erhabenes kann flüchtig, Schwermut kann glamourös und beschwingt erscheinen. Dies in unterhaltsame, weil melodiöse und beatorientierte Sound-Tracks und Sound-Minidramen umzusetzen, macht die Stärke Sankt Ottens aus. Dieser Umstand dürfte sie prädestinieren Hörer aus vielen Genres zu rekrutieren. Fans von A Flock Of Sea Gulls bis King Crimson sollten sich jetzt angesprochen fühlen. Ja, für mich riecht das nach Konsenssause. Ja, Sause, nicht Sauce – ich mein’s positiv. Die große Bandbreite bedingt hier nicht etwa ein Buhlen um den Mainstream. Gott bewahre!

Vorzüglich ließ sich dies bereits an der ersten Platte „Eine Kleine Traurigkeit“ studieren. Dort kamen noch Text und Stimme hinzu, die in ihrer ungeheuren Zartheit und Zerbrechlichkeit ein Pentant in der deutschen Popmusik suchen. Allenfalls S.Y.P.H., mit ihrer schonungslosen Authentizität und Infantilität, kommen da als Referenzgröße in Frage. Anti-Coolness. Aber richtig zelebriert. Dazu Pathos. Dazu Ironie. Selbstironie. Die spiegelt sich wieder in vielen Songtiteln, siehe: „Es ist nicht alles Gott, was glänzt“, „Ich beantrage die Unsterblichkeit“ oder „Sternstunden Der Resignation“.

In den Videos wird kein einheitlicher Stil gepflegt. Einige wirken sehr plakativ. Andere wurden youtubemässig hingerotzt. Überwiegend werden Forderungen nach Ästhetik aber hoffnungslos naiv und technisch fast mit DIY beantwortet, tendieren zum Teil in Richtung hermetisches Kunstwerk à la Klaus Nomi oder Samuel Beckett. Dies dankenswerterweise aber nie ohne beständiges Abschütteln von Kunstscheiß-Status-Denken. Sankt Otten sind von der Rezeption her zwar noch mal ‚was anderes als eine Elektro-Band. Sie sind aber AUCH Letztere. Da wollen sie sich selbst offenbar nicht erhöhen. Eher das Gegenteil. Mit auratischen Praktiken wird gespielt. Was sich in der Bühnen-Inzenierung spiegelt, welche eher an eine unprätensiöse Krautrock oder Minimal-Elektro-Aufführung erinnert.

Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten die Osnabrücker bereits zwei bemerkenswerte Alben. Zunächst 2009: „Morgen Wieder Lustig“. Im Januar 2010 kam ein weiteres (Split-) Album von Majeure und Sankt Otten heraus.

Nach diversen Labelwechseln wiederveröffentlichte das australische Label Hidden Shoal Recordings 2008 zunächst das 2000er Album „Eine Kleine Traurigkeit“. Dort erkannte man offenbar das Potential der Band und legte kurzerhand die Single „Fernfahrer“ noch einmal auf. Obwohl damals Sankt Otten rhythmisch noch dem Trip-Hop näherstanden und, wie oben erwähnt, eine Band mit Stimme waren, ist ihre Musik erstaunlich homogen geblieben. Ähnlich Joy Division, konnten sie ohne Gesang – „Mir bricht die Stimme weg“ – nahtlos weiter arbeiten ohne auch nur eine Spur ihres Grundgehaltes einzubüßen.

Wobei ich – zumal bei solchen Vergleichen – vielleicht noch erwähnen sollte, daß Sankt Ottens frühere Stimme, Carsten Sandkämper, weiterlebt, und zwar als Sänger der ebenfalls in Osnabrück ansässigen Band Pendikel.

Sankt Otten bestehen seither aus Gitarrist Oliver Klemm – siehe auch gerne Phillip Boa & The Voodoo-Club – und Stephan Otten. Womit der Bandname „Sankt Otten“ zuletzt noch jeglicher Darkwave-Mystik entkleidet werden soll. Ebenso wie Bohren & Der Club Of Gore, oder zum Beispiel die Bollock Brothers, spielen Sankt Otten bewußt gegen – und mit – Genre-Stereotypen und Albernheiten – „Kann denn Liebe Synthie sein?“. Wobei aus manch verkrusteter Szene-Seriositäts-Dümpelei wunderbarerweise dann neue Ernsthaftigkeiten, bzw. Wahrhaftigkeiten erblühen – ganz ähnlich dem Wirken der oben erwähnten Referenz-Bands, denen dies jeweils auf geniale Weise geglückt ist. Auch Sankt Otten bleiben meilenweit entfernt von Crossover und Fusion. Was aber noch nicht alle gemerkt haben. Weshalb die Band selbst auf einem so prominenten Instrumental-Portal wie The Silent Ballet allenfalls Anerkennung für ihren perfekten Stilmix, nicht aber für ihren eigenwilligen Anti-Style bekommt.

„Ende Gelände“ – Résumé: Sankt Otten stehen reziprok proportional zu einem eklektizistischen Elektro-Act. Die Fusion-, und die Puristen-Gemeinde tun sich oft schwer, wenn es darum geht Phantasie und Wahrhaftigkeit gegenüber bloßem Facettenreichtum und Stilsicherheit abzugrenzen. Das irritiert stramme Anhänger eines Style-Lagers zuweilen. „Der heilige Schmerz“. Worauf ich hinaus will. Daß Sankt Otten keine gerissenen Retro-Elektro-Häretiker sind, sondern so ‚was schön Gruseliges wie Post-Strukturalisten des Underground, bzw. der Avantgarde, bzw. des Progressiv-Pop/Rock, bzw. des Alternative-Rock/Pop, bzw. des neuesten Frankenstein-Geschöpfs davon, „Thom Yorks letzte grosse Liebe“, nämlich Indie.

Denovali Records

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