Je rumpelsturz desto Burzelblock

Text: | Ressort: Musik | 15. Juli 2012

„Ihr habt zuviel Zeit“ (Gunter Gabriel-Sample auf „Zuviel Zeit?“ vom Adolf Noise-Album „Wo die Rammelwolle fliegt“)

Schön, daß wir wieder mal von Zeit sprechen. POP HATTE DOCH WIRKLICH GENUG ZEIT. Es wäre in dem Zusammenhang angebracht, über Frieder Butzmanns neuestes Album zu schreiben. Es ist ein Jahr vergangen, seit „Wie Zeit Vergeht“ erschien. Zeit genug, um „Wie Zeit Vergeht“ in Ruhe anzuhören. Und dennoch immer wieder ins Grübeln zu kommen, abgelenkt zu werden. Schlußendlich zu keiner abschließenden Beurteilung zu gelangen. Wer hatte so viel, wer hatte dagegen kaum Zeit sich damit auseinanderzusetzten. Und hat sich jemand – in dieser Periode – wiederholt erinnert, daß genau dieses Album Relevanz hatte, IN DIE GEGENWART GEFÜHRT HAT?

Rerezension, Sukzessive Approximation, VIERTAUSENDFACH VERLANGSAMTE VERSION usw. Den Kreis des bloßen Ankratzens von zeitgenössischer Musikproduktion endlich durchbrechen zugunsten einer offenliegenden, gesteigerten Möglichkeit zur Gleichzeitigkeit, bzw. Vielschichtigkeit, MODERN, ABER NICHT GESCHICHTSVERGESSEN.

Underground-Künstler waren stets die Garanten für eine reibungslos gentrifizierende Wertschöpfungsindustrie. HIER FÜHRT EIN WURMLOCH DIREKT ZUR seltenen Vinylplatte und einem Milchkaffee gegenüber dem SO36 – so zum Beispiel geht das. Guck mal, sie wiegt hundertundvierzig Gramm. Und sie wurde limitiert auf fünfhundert Multiples. Jetzt schon so teuer, daß sich die Künstler ihre LPs kaum selbst mehr leisten können. Gut, daß sie ZU STREAMEN BEGANNEN, DAMIT ES AM TAG DES OFFIZIELLEN US-RELEASES keine Versteigerung bei Sotheby’s geben mußte.

BEIM ERSTEN HÖREN WIRD die Spieldauer von circa sechunddreißig Minuten, entsprechend der eines klassischen Pop-Albums, auffallen. „Wie Zeit Vergeht“ enthält dabei jedoch nur drei Stücke. Und diese ließen sich unschwer in sechs, zwölf oder sechunddreißig Stücke unterteilen. Ganz zu schweigen vom Zeitgefühl: DIE GESAMTDAUER WIRD HIER AUF ÜBER ZWEITAUSEND-
UNDSIEBENHUNDERT STUNDEN AUSGEWALZT. JEDE EINZELNE SEKUNDE DAUERT SOMIT JEWEILS ETWAS MEHR ALS EINE STUNDE. Die Frage, welche Länge einem pro Track zuzumuten wäre, wird hier also von vornherein ignoriert. Fragen wie: „Wie oft werde ich beim Hören unterschiedliche Stücke wahrnehmen?“, oder: „Wie sehr kann ich mich auf mein Gehör verlassen, kann mich ohne Text und Cover orientieren?“ und: „Wie spüre ich, wo ein Stück endet, wo ein anderes beginnt?“ werden dagegen offensichtlich provoziert.

UND WAS BEKOMMEN WIR IM MÄRZ 2012 PRÄSENTIERT? Zum Zeitvertreib habe ich drei Texte von Musikkritikern unterschiedlicher Magazine zu einem aktuellen LONGPLAYER herausgesucht und diese auf Häufung von Begriffen, welche Zeit in irgend einer Form betreffen, untersucht. Danach habe ich die Passagen in diesen Text hier in Großbuchstaben eingesetztRETWEETEN. (Es wurde eine – zumindest was den Experimentcharakter der Musik betrifft – durchschnittliche Indie-Pop-Band besprochen, nämlich Bear In Heaven).

Auffällig ist, das alle Rezensenten das Veröffentlichen einer superzeitgedehnten Version ihres Albums als interessantes Experiment goutieren. Dieses Moment berauscht und erfrischt offenbar. SO GEHT ERWACHSENWERDEN. Und man merkt, daß hier die eigentliche Sensation eine Marketing-Idee ist. Und die wirkt anregender und interessanter als der Rest, die relativ erwartbare, einem zeitgenössischen Geschmacksschema folgende Musik. Durch das Moment des Experiments bewegt sich etwas, kommt etwas Neues hinein. Schade, daß überhaupt eine Kurzversion des neuen Bear In Heaven-Albums nötig wurde. Aber, allein des Zeitlupen-Albums wegen hätte sich wahrscheinlich kein Schreiber weiter den vierdimensionalen Phänomenen in der Popmusik gewidmet.

Frieder Butzmann dagegen tut auf seinem neuen Album quasi nichts anderes, als mit Zeit zu experimentieren. DA DER GENEIGTE POP-CONNAISSEUR DIES JEDOCH SCHON SEIT JAHREN WEISS, erscheint es zunächst widersinnig ihn im Kontext von Pop-Rezensionen zu kritisieren, da er sich nicht an Parametern einer Pop-Produktion orientiert. Der unvermeidlichen Einordnungs- und Verlinkungsliebe des deutschen Feuilletons will er sich aber selbst nicht doof widersetzen. Und so hat er eine Liste ausgesuchter Definitionen zu seiner Art Musik zu machen auf seiner Webseite versammelt. Ich suche ganz einfach die mir liebsten aus und füge sie zusammen. Es entsteht: Bubble-Gum-Musique-Concrète.

„In Großalmerode sind die Bäume um den Ortskern herum abgeholtzt worden.“ (aus Titel Nummer Zwei: „Blauwellen“)

Es gibt keine narrative Struktur. Das Thema Zeit wird irgendwie sehr weitläufig – zumindest unsystematisch – umforscht. Butzmann kommentiert dabei laufend was er gerade tut, woran er gerade dreht – sozusagen am offenen Rezeptionsorgan, und läßt von massenweise Unerwartetem und Zufälligem seine scheinbar strenge Partitur immer aufs Neue durchlöchern. Dieser durchweg stoisch-störrisch-störmanöverische Habitus verhindert das routinierte Hören en passant und ein damit verbundenes Zuschreiben und Beschreiben. So, daß typische Struktur-Parameter, welche den routinierten Rezensenten sicher in der Spur halten, einfach nicht greifen. Ist das jetzt ein Song BEI DEM SICH DIE STRUKTUR MIT ZUNEHMENDER DAUER AUFLÖST, ein Dialog, eine Collage, ein Zitat, eine Einleitung, eine Überleitung?

Zwischen Beinahe-cabaret-voltaire (mehr Zürich als Sheffield, mehr Dada als ACHTZIGER-JAHRE-REPRISE) und Irgendwie-doch-seriös – zumindest mit einem Gutteil kagelischen Ernst – findet Butzmann seinen ganz eigenen Mix. Indem er das Leichte und den Schock, assoziative wie dissoziative Elemente, im Hörbild immer wieder verquickt oder jene sich gegendseitig aufheben läßt, verhindert er ein allzu flinkes Abhaken als profund gemachtes Radio-Klang-Feature oder nur dilettantisch-juveniles Experimental-Zeugs.

Wenn er als Alias produziert hätte, neigte ich bestimmt zu sagen, er sei noch reichlich jung, er VERGEHT SICH AN DER EWIGKEIT und ist dabei wunderbar ungestüm und unbedarft. Diese bisweilen naive Frische kann ich im Hinblick auf Butzmanns musikhistorische Aktivitäten – ohne diese hier noch einmal erwähnen zu wollen – aber nicht erklären. Er bleibt ein Phänomen, weil er, trotz seiner Erfahrungen einfach macht. Etwas, was Popmusiker zwar schon machen, aber halt selten. Sich die Zeit nehmen innerhalb des Genres produktiv zu forschen, auszuloten. Ganz offen und ohne festen Plan, in welche Richtung das letztendlich gehen könnte. Und offenbar auch egal, welche Sparte, welche Kritiker dies letztendlich tangieren müßte.

„Wie Zeit Vergeht“ impliziert als Überschrift den vermeindlich ernsthaften bis wissenschaftlichen Versuch an Musik irgendwie herumzudoktern. Das ist aber eine falsche Fährte. Das wäre außerdem zu eklig. Denn handfeste Chirurgie liegt Butzmann gar nicht. Genauso wenig, wie er ein präziser Analytiker ist. Das kann man an vielen seiner musikalischen Werke, wie auch in seinen Texten und Büchern feststellen. Er ist mit seinem komisch-kosmischen Klanglaboratorium

sicherlich ein Unikat, auf dem ansonsten eher vor Minimal, Ambient, Darkness – WIE SIE DAMALS ALLE HIESSEN triefenden, bierernsten Feld der experimentellen Pop-Forschung.

So einfach geht das eben nicht mit der „Feldregulierung der Grundphasen“. Schlaue Blauwellen sind nötig, um Hören wieder zu einer Raum-Zeit-Erfahrung, zu einem Hör-Erlebnis zu machen. Hören und Spielen, fast ohne Codes und Bezüge, BEGINNT BEREITS BEI DER PULSIERENDEN ERÖFFNUNG. Das ist es, was die Versuchs-Musik – und Butzmann bewegt sich quasi eisbergenhaft durch jenes arg verwässerte Gebiet – voranbringen kann. JEDER SONG  UNTERNIMMT EINE ENTWICKLUNG. Es gibt viel zu wenig von dieser kolossal augenzwinkernden akademischen Finesse quer durch die Genres. Und wenige junge Leute, die wie Butzmann die Grundlagen und Grenzen nicht nur neu bestimmen, sondern wirklich ausloten wollen. Ausnahmen, klar: so kommen die „Chill-Out-Hörspiele“ von DJ Koze/Adolf Noise der Herangehensweise Butzmanns ganz nahe – wobei Kozalla textlich MAL WIEDER um einiges brachialer, musikalisch dafür eingängiger daherkommt. Eine neue Humor-Avantgarde ist also schon auf dem Feld. Aber, das Personal bleibt vorerst spärlich: Felix Kubin, F.S.Blumm, Conrad Schnitzler, Asmus Tietchens oder Merzbow WERDEN WIR NIEMALS DABEI ERTAPPEN zotigen Nonsense abzuliefern. Dagegen wird heute an sogenannten Pop-Akademien zunehmend Unsinn verzapft. Und – ähnlich der Problematik in der Vermittlung von bildender Kunst (DIESER STREAM ENTPUPPT SICH ALS WAHRER LONGPLAYER) – Grundlagenforschung eher stiefmütterlich behandelt. Zwar wird die Hardware gelehrt, nicht aber werden Sinn und Möglichkeiten des Umgangs mit dieser ernsthaft diskutiert.

Stattdessen wird der Vermarktung der höchste Stellenwert eingeräumt. Das geht, wie man bei diversen BANDINKARNATIONEN sehen kann, bis zu der Absurdität, daß das Experiment innerhalb der Struktur der Musik bei einer Veröffentlichung zurücktritt gegenüber lediglich einem Public-Relation-Experiment, welches dem eigentlichen Produkt lediglich als Gimmick, als Teaser appliziert wird.

Wenn wir heute also dazu übergehen, Popbands mit Hochschulabschlüssen auszustatten, sollten wir vielleicht darauf achten – ähnlich der Ausbildung in klassischer Musik – , daß die Lehre Schwerpunkte in Grundlagen der Technik, der Forschungsarbeit legt. Nur so ist vermutlich gewährleistet, daß erfolgreiche Runzelstirn & Gurgelstøck-Diplomanten, die brav ihr Amplituden-Album (Herbarium Butzmannense) abliefern, auch einen künstlerisch befriedigenden Beitrag leisten können – und es sollte einem danach auch nicht mehr Bange sein müssen, daß jenen von vornherein jegliches Pop-Appeal abginge.

Frieder Butzmanns Album ist in dieser Hinsicht sicher ein hinreichendes – MIT ZUNEHMENDER HÖRDAUER auch hinreissendes – Unterrichtsmaterial. WENN ZUM SCHLUSS DER EINDRUCK ENTSTEHT, daß die Bäume um den Ortskern von Großalmerode herum wieder eine Zukunft bekommen, dann liegt das an MUSIK, DIE DEN EINDRUCK VERMITTELN SOLL, NIE MEHR ZU VERGEHEN. MÜSSTE FÜR DAUER-AIRPLAY SORGEN.

PAN (2011)

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