Roskilde 2012
Text: Klaus | Ressort: Diary, Musik, Veranstaltungen | 6. November 2012Zunächst mal ein paar Zahlen: 77.500 Karten für das komplette Festival und 5.000 Tagestickets allein für den Sonnabend wurden an den Mann bzw. die Frau gebracht. Mit allen Beteiligten Volontären, Freiwilligen Helfern usw. beziffert der Veranstalter die Teilnehmerzahl auf ca. 130.000, wovon zwischen 15 und 20 Prozent aus dem Ausland anreisten. Wobei naheliegender Weise die meisten aus den Nachbarstaaten Schweden Norwegen und der BRD kamen. Demgegenüber standen 200 Künstler und Bands auf sieben Bühnen. Der Gewinn beträgt etwas zwischen acht und zwölf Millionen Dänische Kronen und wird, da es sich um ein gemeinnütiges Festival handelt, bis zum Beginn des nächsten Festivals 2013 einem oder mehreren guten Zwecken gespendet. Traurige Nachrichten gab es leider auch in diesem Jahr. So starb ein junger Schwede aufgrund von Drogenmißbrauch zu Beginn des Festivals auf dem Campingplatz. Ein schärferes Vorgehen gegen Drogenverkäufer und zusätzliche Patroullien wurde angekündigt. Alle anderen hatten eine gute Zeit und wie in jedem Jahr die Qual der Wahl, da das Monsterprogramm natürlich parallel auf sämtlichen Bühnen ablief. Mehr als eine kleine subjektive Auswahl ist daher nicht möglich bis das temporäre Klonen endlich ausgereift ist.
Pre-Party schon zwischen den Fresständen auf dem Campingplatz.
Endlich öffnen sich die Tore und die Masse stürmt das Gelände.
Zum Start was Süßes. Mïa Vidal verzaubert die Gäste im Gloria, der kleinsten Location, mit zarten Songs zwischen Chanson und Folk.
Die deutsche Abordnung wurde diesmal angeführt von Kraftklub. Die auf ihrem diesjährigen Festivaltriumphzug wohl nirgen vor so wenig Leuten spielen mußten. Schätzungsweise 1000-1500, vornehmlich Deutschprachige, ließen sich aber auch nicht die Stimmung von Herrm Brummers radebrechenden Englich die Laune vermiesen. War ja irgendwie auch schon wieder niedlich.
Betulicher gings es dann bei Clock Opera zu. Fein zisilierte Folkpopsongs mit einer Menge Potential.
Der erste Höhepunkt auf der Hauptbühne: The Cure zum wiederholten Mal, aber immer noch gut und zweifelsohne längst Legende. Nur rannte diesmal nicht Ville Vallo vor uns rum, wie beim letzten Mal.
Ein Höhepunkt der ganz anderen Sorte war Perfume Genius. Zum Herzerweihen. Sagenhafte Platte, großartig live! Und auf fluffigen Wolken schwebend beendeten wir den Donnerstag.
Weedeater sorgten für einen fulminanten Auftakt am Freitag. Sludge Metal vom Feinsten.
Red Fang stzen das konsequent fort und rockten das Odeon.
Die kurz danach so tragisch verunglückten Baroness waren der Höhepunkt diese Rocktriples an diesem Nachmittag. Zum Glück haben alle den Sturz von der Hochstrasse im Van überlebt und konnten mittlerweile auch das Krankenhaus verlassen. Aufgrund der komplizierten Brüche, der folgenden Reha wird es wohl noch einige Zeit dauern bis man sie wieder derart unbeschwert aufspielen sehen kann.
Gossip rissen im Anschluß das zahlreich vor der orangenen Bühne versammelte Publikum mit und ließen die Beinchen zappeln. Hätte ich nicht gedacht, nach der durchwachsenen Show bei Rock am Ring, die des öfteren im Fernsehen zu sehen war. Funktioniert also doch auf der großen Bühne, obwohl der größere Abstand zwischen Publikum und Bühne der kontaktfreudige Frontfrau doch zu schaffen machte. In der Halle oder im Zelt definitiv noch eine Spur extatischer.
Intelligente Rockexperimente boten Ter Haar aus Berlin vom qualitätssicheren Sinnbus-Label.
I Got You On Tape mit Frontmann Jacob Bellens, den man auch von Murder kennen könnte, hatten natürlich Heimvorteil und lockten soviele Zuschauer an, dass noch im weiteren Umfeld des größten Zeltes (Arena: Fassungsvermögen: 17.000 Menschen) kein Platz frei blieb. Getragener Pop mit smtig sonorer Stimme. Schwer einzuordnen. Grandios.
Arenaumfeld
The Vaccines ließen die Kracher des Debüts „What Did You Expect from the Vaccines?“ aus dem letzten Jahr gemeinsam mit Stücken vom zu dem zeitpunkt noch nicht erschienen Nachfolger „Come Of Age“ wirken und kochten das Odeon ordentlich auf.
An selber Stelle konnte man kurz darauf Lee Ranaldo bewundern. Erstaunlich konventionelle Singer-/Songwriter-/Rocknummern bedenkt man seine Herkunft von den Noise- und Avantgarderockern Sonic Youth. Seinen dortigen Bandkollegen Steve Shelley konnte man am Schlagzeug entdecken. Gut abgehangene Altherrenmucke.
Gut abgehangen aber noch etwas entfernt vom Altherrendasein beseelte Jack White mit seiner Frauencombo die Hauptbühne. Fulminant trifft es nicht ganz. Das war schon sehr bombastisch. Interessanterweise kamen nicht nur die Stücke seines Soloalbums zum Einsatz. Im Gegenteil es war eine große Jack White Retrospektive mit Stücken von all seinen Projekten, Raconteurs, Dead Weather und natürlich den White Stripes. Deren Stadionhymne dann doch wieder Erwarten als letzte Zugabe lief. Die alten Kracher wurden in überarbeiteter Form mit aufgebohrten Arrangements dargereicht, was einerseits ganz interessant war, aber andererseits lieferte er damit selbst den Beweis dass die guten Songs zwar mit ein bißchen Harve, Geige und Perkussionstrallala auch funktionieren, sie aber in der abgespeckten Version trotzdem mehr Dampf haben.
Hier noch etwas ausführlicher: www.valve-magazine.net.
Achziger Pop und Neohippietum: Nicki & The Dove mit viel blinkenden Lämpchen und extra Ausdruckstänzerinnen.
Mond über dem Wachturm auf dem Campingplatz.
Interaktiver Heulbojenfolkrock mit Dry The River. Möchtegernkingsofleon in nett.
Bei welchem Festival kann man sich auch noch in der Porzellanmalstraße austoben?
Owiny Sigoma Band ist ein multikulturelles Fusionsprojekt mit ein paar Londonern und Musikern aus Nairobi. Westliche Tanzgrooves gepaart mit der traditionellen Musik der Luo in deren Mittelpunkt die Nyatiti, auch keniatische Harve genannt, steht. Sehr mitreißend.
Und noch ein Auftritt im Gloria zum Niederknien: die Bowerbirds. Kein Wunder, dass die Band aus Nord Carolina momentan als der heiße Scheiß gehandelt wird und sich die Lobeshymnen über ihr Album „The Clearing“ gegenseitig überflügeln.
The Roots: Endlich mal ein Rapkonzert ohne ständige Ghettoverweise, pubertäres Gepose usw.. Hier stehen Musik und Botschaft vor allen Nebensächlichkeiten. Ganz großes Kino!
So sieht Recycling aus: ein Pfeifchen aus einem Campingstuhlbein basteln und tief einatmen.
Nach 14 Jahren Ruhestand die von den Fans lang erwartete Rückkehr: Refused. Kein bisschen leiser, kein bisschen träger, ein paar Falten mehr, aber immer noch die selbe Wut auf Politik und Gesellschaft. Den nachgewachsenen Post-Harcoreren sollte nun aufgehen, dass sie weder was zu sagen haben, noch eine vergleichbare Wucht entwickeln wie die alten Herren.
Cold Specks lieferten einen zauberhaften Auftritt ab und sind für mich im Direktvergleich mit Alabama Shakes eigentlich die interessantere Neuentdeckung, da weniger originalgetreu und somit eigenständiger. Sehr süß: zur Auflockerung am Konzertbeginn gabs den Titelsong vom „Der Prinz von Bel-Air“ acapella. Hihi..
Jaja der Boss. Wegen Bruce Springsteen waren wohl extra viele angereist und auch mich hat gefreut, dass ich da so unkompliziert auch mal ein Haken hinter machen kann. Der Chef hatte das natürlich souverän in der Hand, dirigierte die Massen und die riesige Band. Der tragische Tod von Bandmitglied Clarence Clemons bestimmte die erste Stunde und gemeinsam hielt man Rückschau, Andacht und beseelte sich gemeinsam für den Blick nach vorn. Danach gab es dann kein Halten mehr und der Hitmarathon nahm seinen Anfang und endete erst nach über drei Stunden.
Soviel Zeit konnte ich damit aber nicht verbringen, da Bon Iver nun im Arena-Zelt aufspielte, versteckt hinter einer aufwendigen Lichtinstallation, die gut dazu angetan war auch als Leuchtfeuer für ein paar einschwebende Ufos zu dienen. DER Gänsehautmoment des Festivals war dann aber der Chor der ca. 25.000 beim gemeinsamen Absingen von „Skinny Love“. Kurios wie plötzlich ein eigentlich so zerbrechlicher Song zu einer Hymne anschwillt, wenn nur genügent Leute mitsingen.
Kontrastprogramm: während der Boss immer noch die Hauptbühne niederwalzt: Liturgy im Pavillion. Neo-Electro-Noise-Post-Black Metal. Oder einfach: ordentlich was auf die Ohren!
Zum Ausklang Raveweltmeister Paul Kalkbrenner, der dank des Films überall fälschlicherweise für einen DJ gehalten wird. Das störte die Zappelphillippe und Phillipinen allerdings verständlicherweise wenig.
Campingplatz: Am vierten Tag war der Boden endlich wieder einigermaßen trocken. Davor watete man zwei Tage durch den Matsch, da es in der Nacht zum Freitag ausgiebig regnete und auch tagsüber immer wieder tröpfelte. Mit dem richtigen Schuhwerk und einer Regenjacke ist man allerdings gut gerüstet und solche Kleinigkeiten tropfen an einem ab.
Und übrigens auf welchem Festival führt man zum frühen Morgen ein Fachgepräch mit dem Zeltnachbar, der sich sachkundig lobend zu Weedeater äußert und sich dann noch als Fan von Alison Krauss outet, die am Tag zuvor spielte?
Mohammad Reza Mortazavi verblüffte die geneigten Zuschauer mit seiner Tombak, der persischen Handtrommel. Was zunächst traditionel begann entwickelte sich schnell zu mantraartigen Drumloops die fast schon synthetisch klangen und sicher nicht nur mich verblüfften. Interessant dass paralell zwei Drumlinien in unterschiedlichen Höhen- bzw. Basslagen fabriziert werden konnten, die unabhängig voneinander ein Eigenleben führten.
Noch eine Legende: Dr. John & The Lower 911 feat. Jon Cleary. Der große Schamane des Swamp-Blues & Rock’n’Roll und im Gepäck eine nagelneue richtig gute Platte, produziert von Black Key Dan Auerbach. Sehenswert.
Oldscholl HC mit H2O: prototypisches Gepose und ein Sound wie tausend Andere. Kann man aber auch Mal machen.
Die polnischen Schwarzmetaller Behemoth ließen nichts aus: Corpse Paint, Mikroständer in Kobraform, Pentagramme, Flammen und brennende umgedrehte Kreuze. Sehr unterhaltsam.
Noch ein paar alte Hasen auf der Hauptbühne: Machine Head. Kaum zu glauben, dass so etwas mal cool gewesen sein sollte. Bemüht.
Relaxen oder…
abzappeln, bei Africa Hitech hatte man die Qual der Wahl. Leider zu wenig besucht für den Hit, den sie im letzten Jahr hatten, bei dem kein Fuß still stehen bleiben konnte.
Die Schweden von Nasum auf Abschiedstour. Den beim Tsunami 2004 umgekommenen Frontmann Mieszko Talarczyk ersetzte Keijo Niinmaa von Rotten Sound.
Freisitzskulpur vor dem Odeon
Alabama Shakes im Odeon. Perfekt eingespielt, mit raumfüllendem Timbre von Frontfrau Brittany Howard. Solang solche Talente nachwachsen sirbt weder Blues noch Rock und Roll.
Begeisterung beim letzten Auftritt auf der Orange Stage.
Björk im Gummidarm. Mittlerweile hat sie sich einen Status der Unangreifbarkeit erarbeitet, der doch verblüfft. Nach zwei richtungsweisenden Soloalben konsequent auf Avantgarde gesetzt, unhörbare Kunstmusik fabriziert und doch stehen bei so einem Festival Massen vor der Hauptbühne. Zwar deutlich weniger als beim Boss aber immerhin. Quasi unmöglich auch eine Bühnenadaption ihres letzten iPod-Albums. Die Blitze in der faradayischen Trommel sieht man nur aus der ersten Reihe. Der Sirenchor zappelt mal links, mal rechts und Würmer fressen irgendwas im Aquarium auf der Leinwand. Toll. Kunst. Und bei allen Unkereien ein bombastische Abschluss eines gelungenen und abwechslungsreichen Festivals, das seines Gleichen sucht und immer noch als Referenz für die meisten anderen herhalten muss.
Sirenenchor
Ausklang und Abschiednehmen
Am nächsten Morgen sah es auf dem Campingplatz so aus wie immer. Prost Mahlzeit und viel zu tun für die fleißigen Helfer, die eigentlichen Stars der Veranstaltung, ohne die es nicht stattfinden könnte. Respekt und Dank von unsere Seite. Und natürlich auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr.