Roskilde 2013 – Wir waren dabei

Text: | Ressort: Diary, Musik, Veranstaltungen | 30. Juli 2013

Schon die Zahlen allein sind erfurchteinflößend: 80.000 zahlende Besucher, 10.000 Künstler, Organisatoren, Journalisten, 32.000 freiwillige Helfer, sieben Bühnen, 195 Konzerte und 100 Performances bzw. Kunstprojekte verstreut auf dem Festivalgelände. Aktionen zur Rettung des Planeten und zur Schärfung des politischen Bewusstseins. Bemühungen die Veranstaltung ökologisch verträglicher zu organisieren und eine Abteilung mit erhöhtem Nachhaltigkeitsanspruch. Ganz schön viel auf einmal und obendrein auch noch nichtkommerziell. Sämtliche Gewinne gehen an wohltätige Organisationen.
Uff! Und jetzt das Unfassbare: Es hat auch noch allen Spass gemacht. Das Miteinander ist geradezu familiär und alle haben sich lieb. ehrlich, kein Scheiß, trotz der Größe beschwört Jeder die besondere Gemütlichkeit. Kunstdorf, Graffiti und eine endlose lange Wand mit surrealen Bildverfremdungen von Ron English. Stände, Essen, Trinken, Krimskram, Menschenmassen und bestes Festivalwetter. Zunächst noch etwas bewölkt und in der zweiten Hälfte nur noch Sonnenschein mit einem kleinen Lufthauch, man ist schließlich nicht weit weg vom Meer.
Und weil statistische Erhebungen manchmal auch rocken hier noch ein paar Zahlen vom vorangegangenen Jahr bevor wir zum Programm kommen:

– Durchschnittsalter: 24
– 90% der Besucher sind froh da zu sein
– 80% Dänen, 8% Norweger, 4% Schweden, 8% Rest der Welt
– 50.000 Zelte
– Bevölkerungsdichte: 125.000 Personen/km²

Verbrauch:
– 1.000.000 Liter Bier
– 40.000 Liter Wein
– 60t Rindfleisch
– 5t Schinken
– 30t Fritten
– 2,5t Mayonaise
– 4t organischer Fair Trade Kaffee
– 3.500km Klopapier (adequat Strecke Kopenhagen-Kairo)

– 17kg Abfall generiert jeder Gast (Landesdurchschnitt für den selben Zeitraum: 18kg)
– Stromverbrauch: 400.000kWh (ein Teil wird vom eigenen Windrad erzeugt)
– Einsparung durch LED-Einsatz seit 2009: 70.700kWh

So und jetzt zum Programm:

Auf der kleinsten Bühne des Festivalgeländes im Gloria eröffnet Frank Fairfield für mich mit originalgetreuem Folk und Amerikana zu Fiddel und Banjo das musikalische Treiben. Andächtiges Lauschen in der alten Holzhalle mit der futuristischen Bühne. (für den aufmerksamen Leser später im Bericht zu sehen)

Das Kontrastprogramm ist in Roskilde King und so folgen im Anschluß die alten Haudegen von Suicidal Tendencies. Kein Anschein von Altersstarre, wie aufgezogen rennt Mike Muir von einem Bühnenende zum anderen und bellt die Klassiker ins Publikum.

Schweißtreibend fährt das britische Duo Drenge mit nach Benzin, Öl und Bier duftenden Garagenrock fort. Das selbstbetitelte Debüt erscheint am 16.08. bei Infectious Music UK.

Die Person hinter dem Youtube-Phänomen „Harlem Shake“ stand danach an den

Reglern: Baauer und sorgte für Massenandrang an der liebevoll illuminierten Apollo Stage, natürlich inklusive Massenausrastung auf Befehl des Zeremonienmeisters.

Gleich daneben lag eine ganz andere Spannung in der Luft. Scheidige Gitarrenarbeit, stoisches Schlagzeug, dumpf pumpender Bass: Savages, der neue Hype in später Verehrung der New Wave Helden von anno dazumal und doch ganz anders, neu sozusagen.

Der Anteil junger Damen im Publikum nahm im Odeon sprunghaft zu als

Jake Bugg auf der Bühne stand.

Weniger bescheiden und mit wesentlich mehr Brimborium enterten Slipknot die Hauptbühne. Herrliches Kasperletheater, beim dem die Schwächen im Zusammenspiel für die Meisten wohl nicht weiter ins Gewicht fielen. Jede Menge Gestalten, Grimassen, Dreh-Hebebühne für den Clown. Musikalisch naja, aber dennoch Supershow.

Avatar in der Menge

Viel viel netter und freundlicher: Christian Hjelm, der Junge von nebenan und Ex-Figurines Frontmann stellt sein Soloalbum mit neuer Band im Rücken vor. Treue Fans sorgen beim Heimspiel für familiäre Atmosphäre.

Animal Collective hatten wohl das ausgefallenste Bühnenbild. Zum Glück nicht wieder die psychedelischen bunten Projektionen, wie zur letzten Tournee, bei denen Vorder- und Hintergrund miteinander verschwammen und das Zuschauen schon etwas schmerzte.

Den Abschluss des ersten Tages machte ein schwedisches Familienprogramm unter dem Codenamen Ingrid. Hier versammelten sich Lykke Li, Pete, Björn & John, Miike Snow, Coco und einige mehr, um gemeinsam bzw. separat zu musizieren. Eine zauberhafte Matinee mit zahlreichen Höhepunkten.

Neuinterpretation traditioneller koreanischer Musik auf historischen Instrumenten: Geomungo Factory

Im Gloria kommt der Zuschauer dem Musiker so nah, wie sonst nirgens.

Henry Rollins erzählte gleich an drei Tagen Geschichten aus der guten alten Zeit und schäkerte mit dem Publikum.

Quirlig und verspult: Highasakite

Fressgelände

Dead Can Dance, die Düsterfolklegende, in Originalbesetzung mit Lisa Gerrad und Brendan Perry nach 16 Jahren Funkstille wieder auf Tour mit neuem Album.

Sohn: Minimalistische Elektronik und Songwriting a la James Blake. In diesem kleinen Rahmen unglaublich intensiv und beeindruckend.

Turbonegro rocken auch mit neuem Frontmann, obwohl mit Hank auch eine Menge Irrsinn abhanden kam, von dem sich ihre ursrüngliche Energie speiste.

Euroboy, Tony Sylvester, Happy Tom, Tommy Manboy

Die isländer Of Monsters And Men punkten mit orchestralem Indiepop und charmanter Frontfrau Nanna Bryndís Hilmarsdóttir.

Eine Entdeckung waren auf jeden Fall die Esten Talbot. Düster rollender Doom mit Bass, Schlagzeug und Keyboard.

Nein, nicht Cro, aber einer seiner Artgenossen hatte sich wohl verirrt

Soulman Bobby Womack punktete mit Klassikern wie „Across 110th Street“, einem Duett mit seiner Tochter und einem super eingespielten Orchester mit Bläsergruppe und Damenchor.

Zwei Überraschungsauftritte am Kunstdorf gaben Dorit Chrysler, am Teremin, zunächst

solo und dann als Begleitung von Baby Dee, dem Kultstar der Transgenderszene und Kollaborateurin von Anthony Hagarty, Matt Sweeney, David Tibet und Andrew WK.

Huhuhuuuuuu, Rauch, was für ne abgefahrene gefährliche Bühnenschow, gähn. Irgendjemand sollte Kreator mal zu Rammstein oder Boyz Noize einladen und ihnen verraten, das die Pappmachegerippe doof nach altmodischer Geisterbahn aussehen.

Herrlich rumpelnden Garagenrock zelebrierten King Tuff (LA/Vermont) zu vorgerückter Stunden im Pavillion-Zelt vor dankbarem Publikum. Eine wahre Freude.

Das ehemals grüne Zelt, seit geraumer Zeit nun Arena, konnte die Massen mal wieder nicht fassen.

Der Grund waren die Kanadier von Crystal Castles. Ethan Kath stoisch an den Reglern und Alice Glass im Strobogewitter manisch hin und her tigernd.

Der Samstag startet mit moderner Klassik. Das orchestrale Kollektiv Ekkozone führte steve Reichs Musik für 18 Musiker im Cosmopol auf.

Danach kurz rübergehuscht ins Odeon, wo Hoba Hoba Spirit Rock’n’Roll mit ihren marokkanischen Wurzeln kreuzten.

Dannach war wieder mal Legendenzeit. Seit 1994 abtiv, haben Hatebreed noch nichts an Sendungsbewußtsein eingebüßt. Wer sind eigentlich die Nachgeboren Kombatanten im Sektor Metalcore bzw. Hardcore?

Gediegener und mit weniger Laufpensum verzauberte Matthew E. White das angetretene bzw. vorm Odeon chillende Publikum. Super Album, super Auftritt.

Chillen in der Nachhaltigkeitszone

Action Bronson übernahm wortgewaltig den Opener des Hip Hop Nachmittages, an dem noch Joey Bada$$, Danny Brown und die Flatbush Zombies folgen sollten.

Auf der intimen Gloria-Bühne sorgte Dominik Fernow, aka Prurient als Vatican Shadow für eine düstere Stimmung, die dennoch zu Tanzbewegungen verleitete. Auch eine Entdeckung.

Iceage waren mit der großen Arena wohl etwas überfordert. Immerhin fasst das Zelt 15.000 Gäste und die Bühne ist endlos breit. Schwierig da die intime Stimmung der neuen Songs rüberzubringen, trotz Lilien.

Der Nochgeheimtipp Anaal Nathrakh bestätigte von Anfang an seinen Ruf. Kompromisslos und fies rockend, mit super Grimassenshow und Headgebange bis zum Abwinken. Doppelplusgut.

Black Metal Fans mit Zahnspange & Grungebart

The National zauberten anheimelnde Athmosphäre auf das große Feld vor der orangenen Hauptbühne. Immer wieder grandios.

Noch eine Entdeckung und Band To Watch: Unknown Mortal Orchestra.

Wie viel lange Weile oder Muckis braucht man, um auf einem Festival den ganzen Tag eine (physische) Fahne mit sich rumzutragen?

Metallica, für Viele das Highlight des Festivals. Routiniertes, sehr langes Konzert mit Feuerwerk inklusive.

Einen Höhepunkt verpassten die Leute vor der Hauptbühne, da Pissed Jeans zeitgleich im Pavillion-Zelt energetisch aufspielten.

Die Sub Pop-Band aus Allentown, Pennsylvania rockten das Haus und Frontmann Matt Korvette kniete sich in jede einzelne Zeile, wie seine Musikanten jede Note durchprügelten.

Souverän, aber ohne Überraschungen, der Auftritt von Chelsea Light Moving,

dem neuen Projekt von Sonic Youth Legende Thurston Moore. Etwas handzahmer als das Original.

Goat verabschiedeten uns mit orientalische Beschwörungstänzen, Mummenschanz und psychedelische Klänge  ins Reich der Träume.

Der Sonntag startet mellow im Cosmopol. Der schwedischer Hip Hop und R’n’B von Chords gibt sich zwar so cool wie die Originale, bleibt davon aber in Wirklichkeit Galaxien entfernt.

Ensiferum aus Finnland zelebrieren folkorientierten melodischen Metal (sic!) und so wie man sich das der Beschreibung nach vorastellt klingt das auch: etwas kraft- und saftlos – überaltert.

Frisch dagegen spielen die schwedischen Wintergatan auf. Kurioses Instrumentenkarussell und selbstgebaute Unikate inklusive. Heiter und unbeschwerte Instrumentalmusik, die zum Tanzen anregt.

Ein wüstes Fusionskonzept zündet nur so viel, wie sich die Beteiligten reinhängen. Manchmal wär auch weniger mehr. Allerding würde das bei Helicentrics mit Sicheheit auch höchsten live kaschieren können, dass hinter aller Kombinationswut keine Idee verborgen ist.

Dem entgegen hängen sich Fidlar von anfang an voll rein. Reißen mit und qualifizieren sich auch für die Beobachtungsliste.

Nach kurzer Verzögerung von nur 20 Minuten, im Gegensatz zu Angel Haze, deren Elektronik erst nach über einer Stunde Verzögerung zum Laufen gebrachte werden konnte, startete Azealia Banks ihre furiose Show mit viel Action und putzigen Durchblicken.

Gediegener und weniger Zeigefreudig überzeugte John Grant eher durch Vortrag und raffinierte Kombination akustischer und elektronischer Begleitung. Igendwo zwischen James Blake und Depeche Mode. Sehr interessant und mit mehr Tiefe.

Fast übersehen hätte ich die neue Noisesupergroupe Nazoranai. Doch das markante Gitarrenleiden und markerschütterndes Geheul ließ im Vorbeigehen keinen Zweifel. Hier würgt Noisegott Keiji Haino das Gerät, begleitet von Steve O’Malley (Sunn O))), KTL) und Oren Ambarchi.

Laurel Halo stand auf der Apollobühne vor nur wenigen Hanseln. BRMC klangen gerade aus und als nächstes locken die Queens Of The Stone Age die Leute vor die Hauptbühne. Schwierige Zeit, woanders als Headliner gefeiert verpufften die Töne hier fast ungehört.

Wer sich rechtzeitig angestellt hat, war nun ganz vorn an der Orange Stage.

Josh Homme und seine Mannen von Queens Of The Stone Age bestätigten einmal mehr ihre Ausnahmestellung. Tight und fett. So wie es sein sollte in dem Segment.

Komplettversammlung vor der Hauptbühne und die mesiten blieben dann gleich bis zum Finale stehen.

Woodlands  mit Jenny Wilson Schwester Sara (Ex-First Floor Power) im Gloria zwischen Indie, Rock’n’Roll und Rockabilly pendelnd.

Die letzte Überraschung boten die Brüder Mikaiah (18) und Anaiah Lei (14) aka The Bots. Herrlicher bluesinfizierter Rock, Blues Brothers, Black Keys und White Stripes auf Augenhöhe.

Der große Bruder

Stereohypnose bei der Elektrolegende Kraftwerk. Eigenwillige Songzusammenschnitte und Remixe. Müßte nicht unbedingt, wie auch das Anspielen des EXPO-Songs. Wahrscheinlich spricht da der Traditionalist in mir.

Klassisch statisches Stageacting, das die Protagonisten geradezu austauschbar erscheinen läßt. Dennoch ein bewegendes Schauspiel. Obwohl mir die grafischen bzw. abstahierten räumlichen Animationen besser gefielen, als die etwas realistischer darstellung bei „Autobahn“. Mal mit, mal ohne Schatten unterm Fahrzeug, da ist man heutzutage doch etwas verwöhnter durch Hollywoodanimationen und 3D-Spiele jedweder Couleur. Doch allein der Legendenstatus und die zahlreichen Evergreens lohnten den Besuch.

Aus und vorbei, aber nächstes Jahr sind wir wieder dabei.

www.roskilde-festival.dk

Mehr Fotos von Roskilde 2013 oder den vorangegangenen Jahren findet ihr auf unserem Flickr-Account.

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