Zerschreddert, die Idee…
Gehege verlassen, symbolische Subversion aufkündigen

Text: | Ressort: Literatur | 1. Mai 2015

„In einer Zeit, in der das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe weltweit durch multinationale Konzerne massiv gefährdet ist, kommt es mehr denn je darauf an, Haltung zu zeigen. (…) Die Massen (…) haben nicht nur das Recht, sondern vielleicht sogar die Pflicht, sich einer ‚Kultur der Konzerne‘ zu widersetzen.“ (Berthold Seliger, „Das Geschäft mit der Musik“, Edition Tiamat, Berlin 2013)

„Es gibt Kirchen. Es gibt Museen. Es gibt das Kino – und diese drei Orte sollten wir in Zukunft wieder hübsch auseinander halten.“ (Kurt Scheel in „Ich & John Wayne“, Edition Tiamat, Berlin 1998)

„Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu werden.“ (Albert Camus, „Der Mythos von Sisyphos“, Karl Rauch Verlag GmbH Düsseldorf 1956)

„LASST SIE BRENNEN, BRENNEN, BRENNEN …“ hätte Berthold Seligers Buch „Das Geschäft mit der Musik“ eigentlich heißen müssen. Brennen müssten danach die Privilegien, die faulen Aktien, die vielen Seiten redundanter Hofberichterstattung, die Gated-Community- und VIP-Club-Ausweise, die Server der Trusts und Clans, die selbst ausgestellten Hegemonie-Urkunden. Sein Buch liest sich zwar wie eine Abrechnung im Affekt, bedient aber weder den gemeinen noch den intellektuellen Voyeurismus. So beseitigt seine verbale Vendetta die Unkenntnis, beziehungsweise die Scheuklappen, gegenüber schroffen, unsozialen Geschäftspraktiken, äußerst unguten systemischen Konglomeraten und monopolistischen Geflechten. All dies Unappetitliche wird sanft und beherzt vor dem Gegenbild des Wahren, Schönen und Guten, beziehungsweise des guten Rock’n‘ Roll, der wahren Solidarität, der schönen Dissidenz in ein neues Gleichgewicht gebracht, aufgefächert und ausgelüftet. Seliger schwingt dabei nicht heroisch die Moralkeule, setzt sich nicht als Kämpfer gegen Ungerechtigkeit in Szene. Er hebt stoisch stinkende, muffige Teppiche an, wischt feucht drunter weg und klopft einfach mal grob aus. Das ist schon eine Menge, und es entfaltet durchaus unangenehme Wirkkraft, ähnlich der Entdeckung einer häuslichen oder körperlichen Verwahrlosung durch einen guten Freund. Im Falle der hier nun ruchbar gemachten Geschäfte mit der Musik werden im Grunde unsere kulturellen Werte, Pop, auch Musik und Kunst im allgemeinen, in ihrem Bezug auf ihre künstlerische, ethisch-moralische Verwaltung, das heißt, zu den sie beherrschenden, scheinbar übermächtig großen und gleichzeitig qualitativ verwahrlosten Personen, Körperschaften und Häusern, angesprochen.

Es schicken sich nämlich – wie es Kurt Scheel (siehe Zitat oben) in den Neunzigern für den Zeitgeist der Filmkunst konstatierte – diesbezüglich heutzutage immer mehr Exponenten der Kulturwirtschaft an, mit Musik ebenso zu verfahren: ihren Kunst- und Kultstatus proklamierend, gehen sie gleichzeitig mit Inhalten und Korrelationen fahrlässig redundant  um. Mit anderen Worten, die Legitimation für den Gehalt von Popmusik stellen immer weniger deren Konsumenten selbst. Ein quasi behördliches Aufsichtsgremium aus kalten Lohnschreibern und Medienmogulen sorgt für den Katechismus und die Exegese des True Spirit der Pop-Geschichtsschreibung. Ihr starker und Ideologie freier Antrieb ist praktisch Faulheit und Gewinnstreben, beides Attribute, die in verruchten Massenmedien gern „Künstlern“ zugeschrieben werden. Solches lässt sich am einfachsten über Ausbeutung und Spekulieren mit fremden Innovationen und Erfolgsrezepten miteinander verbinden. Wozu noch eigenen Input, wenn man sich aus dem Füllhorn der Geschichte  bedienen kann – so einem dieses Wunderding plus zahlreiche, willige Trickzulieferer gratis Dienste, beziehungsweise Kooperationen anbieten. Beispielsweise werden einstmals klassenlose Orte, wie der Konzertraum, kurzerhand zu VIP-Lounges, Reichsparteitagen oder Fanmeilen mit obligatorischen Sicherheitsschleusen umgewidmet – Letztere werden von Fans schon lange nicht mehr als herrschaftliches Machtinstrument wahrgenommen, so wie vielleicht einstmals der Zaun um Woodstock, Naivität und Novizentum spielen zusätzlich in die Hände.

Während der 1969 beim Rolling Stones-Auftritt beim Altamont Free Concert sich ereignete Hells Angels-Mord an einem Zuschauer noch als Schock erlebt wurde, der eine Ära der großen, gesellschaftsrelevanten Popereignisse beendete, so berührt das heute offenbar nicht mehr viele „Pop-Fans“. Und so werden weiterhin auf unpolitischen Massen-Events Zuschauer durch unsoziales Vorwärtsdrücken niedergetrampelt und geben gar ihr Leben im Sport um die geilsten Plätze – ganz vorn, ohne dass dies  irgendeine bewusstseinsverändernde Wirkung hervorriefe. Umdenken? Woher denn! Oder gibt es derzeit – und kurioserweise gab es wohl niemals so viele Großveranstaltungen wie heute –  ein einziges Mega-Festival, dass nebenbei noch ein gesellschaftspolitisches Anliegen transportierte? Und selbst das kriminelle Zusammenferchen von Musik-Fans bei der „Love-Parade“ von Duisburg, das in einer Katastrophe endete, hat es nur als klitzekleine Pop-Zäsurnote auf ein Album der Untergrundband Die Goldenen Zitronen gebracht: „In Duisburg zerschreddert, die Idee …“. Das war’s mit immanenter Popkritik. Halt! Hat nicht Campino dem Toten Hosen-Konzertopfer Rieke Lax einen, ja … wie soll man sagen, ein Requiem, gewidmet? Das Dilemma der „Schlagerrockband“ (Seliger im taz-Interview 28.09.2013) Die Toten Hosen bleibt meiner Meinung nach, dass sie sich so willig als ironisierende Underdogs verkaufen lassen – dies wahrscheinlich, weil sie selbst an ein solches Punk-Bild von sich glauben. So klingt deren Beileids-Song (siehe „Reich & Sexy II“-Album 2009) „Alles ist Eins“ (Textauszug: „Was wäre ein Leben ohne Tod?“) gelinde gesagt etwas deplaziert, weil er nicht zu den Ursachen dringt, die in der Massenveranstaltungs-Logistik und Ökonomie selbst zu suchen wären. Betroffenheit und Erlösungs-Kitsch gehören nicht zusammen und ersetzen schon gar keine Analyse. Der Tod ist eben nicht immer „wie ein Stern, der vom Himmel fällt“ (ebenda), sondern manchmal eine Tragödie.

Seliger hasst den bigotten Umgang mit Kommerz, den man treffender nicht nachskizzieren kann als er es in dem Abschnitt tut, in welchem er beschreibt wie der oben schon erwähnte Sänger Campino in einer Dreigroschenoper-Version zur Wiedereröffnung des Admiralspalasts in Berlin 2006 den Mackie Messer gibt („Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, Bertolt Brecht) und sich dabei von Josef Ackermann (die Deutsche Bank war Hauptsponsor des klassenkämpferischen Events) beklatschen lässt – zur Nachpremierenfeier trat übrigens der damals hundertunddreijährige Johannes Heesters auf, u.a. mit: „Dann geh ich zu Maxims“, aus Hitlers Lieblingsoperette: „Die Lustige Witwe“. „Nur der Führer konnte diesmal leider nicht dabei sein“, fasst Seliger die real belegte Alptraumszene zusammen. Man könnte resümieren: hier – im „freien“ Westen – massenhaft L’Art pour L’Art-Popmusik, die sich bravestens selbst zensiert oder in Schizophrenie brilliert – Seliger übernimmt hier jetzt auch den Begriff „Biedermeiermusik“ (den wir hier schon seit Jahren benutzen – und der den Zeitgeist, wie ich finde gut trifft). Und dagegen, in Staaten mit unverhüllter Repression: mutige Popgruppen, wie Pussy Riot, die fast nur noch aus Haltung bestehen; dafür bekommen sie immerhin – neben Straflager – die ihre Dissidenz würdigende mediale Aufmerksamkeit. In den USA wurden die Dixie Chicks wegen Präsidentenkritik aus den Massenmedien verbannt, ihre Tonträger vom aufgeheizten Mob zerstört. Noch irgendwelche nörgelnde Fragen, Entschuldigungen, Brecht-Zitate oder ähnlichen Unfug, der unnötig auf die Notwendigkeit einer umfassenden Rückverschmelzung von Haltung und Formgebung verweist? Seliger jedenfalls kann sich eine progressive Entwicklung der Musik ohne ein Mindestmaß an Kritik und Widerspruchsgeist – sozusagen als Antrieb und Essenz von Kulturarbeit  – schlecht vorstellen.

Nein, wir haben keine Fragen mehr. Ja, weil wir diese Fakten hier im Grunde schon alle kennen, – zumindest erahnt hatten. Ein Jeder im Musikgeschäft kocht sein eigenes unappetitliches Süppchen und vermarktet es als Gourmet-Ding. Bestenfalls tricksen sich die in Überzahl agierenden Verbrecher der Kulturindustrie respektive Kreativwirtschaft gegenseitig aus und verschwinden sang- und klanglos wieder in der wohlverdienten Vergessenheit. In solche Spekulationen möchte Seliger jedoch nicht einsteigen, er belässt es bei genauen und weit gefassten Beobachtungen. Auf’s Papier gehört zudem sein Frust und sein Ärger, der bei seiner eigenen Kulturarbeit im Milieu der Konzertagenten, nebendran am weiten Feld der Musikbranchen, immer wieder kulminiert und sich in bissigen, teils treffenden, teils überschäumenden Trommelfeuer-Kommentaren regelmäßig entlädt. Abonnenten seines monatlichen Newsletter  kennen das (Seligers Newsletter wurde kurioserweise von den Springer-Blättern Musik-Express und Rolling Stone 2003 mit dem „Mersha Award“, als „bester Newsletter“ der Musikbranche ausgezeichnet wurde … am liebsten täte der Springer-Konzern den Seliger als Feigenblatt wegkaufen, glaube ich, so wie das beispielsweise mit Sebastian Zabel: „Gruft is in the heart“ schon geklappt hat, von der alten Spex kommend, ging es steil die Karriereleiter runter/Gehaltsleiter rauf, erst zur Berliner Morgenpost, jetzt gar Chef beim Rolling Stone). Für das Klientel der kritischen, wie auch der anti-kritischen Bescheidwisser kommt die neue Streitschrift „Das Geschäft mit der Musik“ also mehr als Bonmot, als Best-Of-Sammlung seiner Gegenreden der letzten Jahre daher. Keine Überraschungen für mich zum Beispiel. Was aber nichts macht, da offenbar niemand diese Texte in irgend einer Tageszeitung, geschweige denn Zeitschrift für Popkultur, regelmäßig abdrucken mochte. Jetzt kann man die besten Seliger-Essays wenigstens einigen Interessierten mehr mit einem Wälzer um die Ohren hauen, der raren Kaste der Sinn Suchenden zum Beispiel, die Popzeitschriften bis heute verzweifelt nach Popkritik durchforsten. Die Kapitel „Die soziale Situation“, „Musikjournalismus“ und „Politik“ kommen zum Schluß. Darin muss der Autor nicht ständig mit Zahlen und Zitaten jonglieren, sondern formuliert freier, assoziativer – wenn auch weniger stichhaltig, so wirken diese Passagen auf mich am überzeugendsten, teils wirklich mitreissend.

Die Leserschaft darf gern noch zahlreicher werden, sich um ein paar zeitkritische, popaffine Geister erweitern – auch abseits vom  Konkret-Magazin, Jungleworld oder dem Berliner Zeitungs-, Der Freitag-Feuilleton, wo Seliger ab und an mit einem Artikel auf den Busch klopfen darf. Ja, auf den Busch klopfen, das würde ich schon – ohne Übertreibung – so ausdrücken, weil Seliger sich etwas mehr traut, sich weiter aus dem Fenster lehnt als so manch anderer, „echter“ Pop-Redakteur. Echt in Anführungszeichen, klar. Denn das ist ja die beißende Ironie, dass Seliger im Popgeschäft – und dazu noch als ehemaliger kommerzieller Konzert-Agent – der echte, der genuine Journalist ist, und die anderen, die meist selbsternannten Experten, sind heutzutage fragwürdige Gestalten, halbseidene Möchtegern- und schmarotzende Halbstark-Intellektuelle, Pseudo-Hipster. Seliger nennt hier immer Roß und Reiter, was so manch einen in ein schauriges Zwielicht setzt: Karrierebögen aus dem tiefsten Underground, die sich bis hin zu gruseligsten Konzernzentralen und Interessenvertretungsvereinen spannen, Beispiel: Mark Chung, Bassist von Abwärts, Bassist der Einstürzenden Neubauten, Senior Vice President von Sony Music Entertainment International,Vorstandsvorsitzender des Verbands unabhängiger Tonträgerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten, kurz VUT. Zitat Chung: „Lieber Berthold Seliger (…),  Dein Mangel an Kompetenz wird nur von Deiner Überheblichkeit übertroffen“. Ja Seliger hat sich dort SEHR unbeliebt gemacht, unter anderem mit seinem Artikel in der Konkret-Ausgabe vom November 2011 mit dem Titel: „Die Leistungsschutzgelderpresser – Wie die Kulturindustrie am altbackenen Urheberrecht festhält, um es zu ihren Gunsten auszuschlachten.“ Das hat zu den teils recht unsachlich bis beleidigend werdenden Gegendarstellungen von Chung geführt (siehe obiges Zitat, vollständig nachzulesen auf der VUT-Webseite). Auch René Martens (taz vom 19.11.2011) schloß sich trotzig, aber ohne jeden eigenen Beleg, dieser Argumentation der „Wissenschaft“ an, deren neue „Studien“ beweisen würden, dass Filesharing „eben doch“ einen negativen Effekt auf Musikverkäufe hätte. Seligers Konkret-Artikel (siehe oben) nennt er in seinem 2011 erschienenen Artikel „Kampf gegen Verluste im Musikgeschäft“ eine „Kettensägenpolemik gegen das – nicht nur deutsche – Urheberrecht“ und setzt mit der Zwischenüberschrift: „Hat Google gezahlt?“ gar noch einen auf Mark Chungs Gemeinheit („Wovon leben die Akteure, wie finanzieren sich ihre Institutionen? Wir unterstellen nichts, wir stellen einfach fest, dass es für uns nicht erkennbar ist“) drauf. Klar, vielleicht kommt’s einmal ans Licht: Berthold Seliger und Patti Smith haben als hochbezahlte Google- und Amazon-Agentinnen das internationale Urheberrecht zersetzt, … düsteres Märchen eines Ex-Einstürzende Neubauten-Bassisten – vom ehemaligen Dissidenz-Blatt taz als reißerische Kampfschrift aufgemacht. Ja, auch Weltbilder stürzen zuweilen ein.

Die kommende, also das wäre dann die siebente Auflage von „Das Geschäft mit der Musik“ braucht unbedingt ein Hieronymus Bosch-Cover auf dem es höllisch brennt! Gesetzt den Fall, es gäbe einen Bedarf an intellektueller Auseinandersetzung mit Phänomenen der Pop-Musik und der sie umgebenden Szenen und Kulte. Von Kultur wird ab jetzt nicht mehr undifferenziert gesprochen. Die ist bekanntlich auf den Hund gekommen. Und das liegt nicht am Geschäft mit Pop-Musik allein, das macht Seliger entgegen seinem programmatischen Titel immer klar: Es liegen Welten, Abgründe zwischen Kultur und Kultur, zwischen Kunst und Kunst und so fort. Auch wenn er dabei Gefahr läuft gelegentlich die falschen Schlüsse zu ziehen, teils etwas zu blumig formuliert, keinerlei wissenschaftlichen Ansätze oder theoretische Fundamente zustande bringt. Er selbst hat auch gar nicht den Anspruch als Pop-Guru oder Musiktheoretiker gehört zu werden. SEIN großes Pfund, das Wesentliche, das was Seliger vom hauptamtlichen (Print-) Journalisten wie auch vom Pop-Theoretiker oder Musikwissenschaftler trennt, ist seine ungebremste Leidenschaft für Musik. Sie macht seine staubtrocken heruntergeschriebenen und aneinandergereihten Beobachtungen von Sauereien so brillant. Und diese Leidenschaft, dieses zuweilen Hasardeurhafte, macht ihn gerade so menschlich, sympathisch – auch angreifbar. Niemals, so scheint es, würde er einfach einen Artikel schreiben, bei dem ihn der Inhalt eigentlich weniger bis gar nicht interessiert.

Essentiell bleibt, laut Seliger, neben der Notwendigkeit Geld zum Leben zu erarbeiten, dass man weiß worüber man sich aufregt. Künstliche Empathie oder routinemäßiges Herunternudeln von Artikeln ist ihm ein Greuel. „Aber es kommt noch schöner“, schreibt Seliger in Anbetracht der heute grassierenden übersteigerten Selbstwahrnehmung und Sinnferne von Journalisten, am Beispiel der Berliner (sic!) Spex-Redaktion (ja, das sind die, die sich anmaßten einen Rückblick über ihre Erfolge der letzten 33 1/3 Jahre in Buchform herauszubringen – obwohl sie selbst 2013 erst 6 Jahre auf ihr Konto hätten verbuchen können, Mißerfolge, aus meiner Sicht), die auf eine Anfrage von Seliger, warum Spex es denn zulasse, dass Plattenfirmen per Höchstgebot über die Teilnahme an einem vorgeblich redaktionell erstellten Magazin-Sampler beteiligt werden, antwortet: „Wir wollen einen Diskurs darüber anregen, wie wahnsinnig hart es ist, Qualität sowie innere und äußere Unabhängigkeit im Journalismus zu garantieren.“ Seliger: „So klingt die Sprache der Nudelpresse.“ Und das ist noch nicht der schlimmste Abschnitt über die Neue Spex, Neo-Spex, Berlin-Spex. Jene, der Klaus Walter einst schon bei der Uraufführung ihres Etikettenschwindels seinen Rundschau-Artikel: „Maximo Park Avenue“ widmete. Seit dieser, leider immer noch gültigen, Erstbeurteilung wenden sich offenkundig immer wieder ehrenwerte Popmusiker – aus Not, nehme ich an, aber das ist FALSCH! – vertrauensselig an diese Adresse. Seliger räumt mit dieser Janusköpfigkeit auf. Man hat sich bitteschön wieder zu positionieren. Alles so schön unklar war gestern. Klar, Wasser auf unsere Mühlen … Feuer unter deren Ärsche!

Seliger fordert mehr, – und zwar VIEL mehr Misstrauen und Abgrenzung, sprich: Dissidenz gegenüber den  Mächtigen in Staat, Gesellschaft, alter Kulturindustrie und neuer Kreativwirtschaft, eine ganz andere Bewusstwerdung und Haltung der Kultur-Arbeiter – und das sind für ihn vornehmlich diejenigen, die sich um gesellschaftliche Reflektion und Fortschritt auf humaner Ebene bemühen – gegenüber Sinn und Auftrag ihrer Tätigkeit.  L’Art pour L’Art bleibt für ihn ein Problem. Schlimmer jedoch findet er eine klammheimliche Anpassung, Mitläufertum oder gar emotionsloses Profitstreben. Sein „Insiderbericht“ ist beileibe kein Stück ziselierte Pop-Lyrik oder gar ein Meilenstein des Investigativjounalismus.  Alles liegt offen, man muss nur hinsehen, berichten. Sein Bericht ist nicht mehr und nicht weniger als eine schlichte aber ausdauernde Brandrede, die an keiner Stelle ausweicht, abtriftet, spekuliert oder sich in Melancholie flüchtet. Was Seliger zu sagen hat, tritt dabei nie als juristisches Beweismittel auf. Keine Passage erscheint andererseits dichterisch völlig frei oder überschreitet die Grenze zur Unterstellung. Als aus der Luft gegriffen, verwirrend, empfinden es vielleicht Menschen, die gegenüber Kultur-Politik und kreativer Arbeit noch nie einen besonderen Standpunkt eingenommen hatten. Und auch auf diese, wohl nicht unbedeutend große Gruppe, zielt wohl der Titel ganz bewusst – scheinbar als Sachauseinandersetzung – , um diese (rein) musikökonomisch interessierten Menschen vielleicht doch der kritischen Diskussion näher zu bringen. Vielleicht hätte eine ruhigere, substantiellere Analyse der Big Data-Versklavung oder des feudal-darwinistischen Kulturgebahrens bessere Ergebnisse – was die Beweiskraft angeht – liefern können. Diese moralische Endlos-Beschwerde tut aber einfach gut, im Sinne einer Katharsis.

Dringlicher als jemanden fachgerecht auseinander zu nehmen und zu überführen, ist für Seliger, dass erstmals überhaupt wieder umfassend und kontextbezogen HINGESCHAUT wird. Nur ein vages Gefühl, dass Saturierung, Klüngelei oder einfach der knallharte, aalglatte Neoliberalismus sich breitgemacht haben könnten, findet er ganz offensichtlich unzureichend. Aufklärung ist sein Antrieb. Sei auch seine Methode hinzuschauen unerbittlich, das Weltbild dahinter tiefschwarz. Niemals gleitet er in vulgären Jargon ab oder versteift sich auf Behauptungen, Meinungen oder Hörensagen. Es befreit ungemein, diese stocknüchterne Aufzählung von Zahlen und Zitaten zu lesen, die ihrerseits wieder auf Missstände und Missverhältnisse verweisen, wodurch sich Zusammenhänge, wenn schon nicht aufdrängen, dann wenigstens keiner Fantasie Raum lassen, mit der sich dies alles ganz anders – vielleicht sogar positiv – erklären ließe. Diese drängende, doch immer in zivilisiertem Ton verfasste Schrift, ermutigt dazu, sich verdammt noch mal in Zukunft nicht mehr alles wegnehmen zu lassen, es den selbst gesetzten Eliten kampflos in ihrem vornehmen „Verantwortungsbereich“ respektive Rachen zu übergeben und zu erlauben es abgeschirmt, wie in einer Bank, zu verwalten. Übersetzt lautet das durchgängige Motto: Halt erst mal! Welche Scheiße soll ich jetzt schon wieder schlucken. Schau dir dies an, und das und das, und wie das alles zusammenhängt. Zum Kotzen. Genau. Letztendlich soll jeder ans Geschäft denken, als ginge es gleichsam ums Überleben? Was ist mit Würde und Respekt gegenüber den Kreativen und den tieferen Zusammenhang und Zusammenklang mit denen, die deren Arbeit schätzen – nicht nur als Hintergrund ihres Biopic, als Lobeshymne, sondern vielleicht ‚mal als Diskussionsgrundlage, Kritik. Nur einmal verwendet Seliger selbst gar das Wort Kotzen, als ihn die erstaunlich elastische Brechung der Ethikkurve einer Musikerin und Darstellerin in einem Allianz-Werbevideo an den Rand seiner ebenfalls erstaunlich beharrlichen, homogenen Sachlichkeit bringt: „Man kann nicht so viele vegane, von der sogenannten Aktivistin Nessi gebackene Waffeln essen, wie man kotzen möchte.

Es wird sicher versucht werden Seligers scharfe Kritik am Business zu verwässern, sie als unbedeutende Verschwörungstheorie oder bloße Diffamierung an den Rand zu drängen: Michael Moore (dessen Filme zahlenmäßig den dazu hergestellten „Gegen-Filmen“ klar unterliegen) oder Yanis Varoufakis, den man am liebsten zu einem lächerlichen Clown einer im Wortsinn ausgepressten Zitronenrepublik einschrumpfen möchte, lassen grüßen. Etwas Vergleichbares hat es lange nicht gegeben – die Rezeption von „Das Geschäft mit der Musik“ verlief dennoch zunächst wie bei den meisten brisanten Themen: steil und kurz. So konstatiert Oliver Jungen in der FAZ nach einer sonst ausgewogenen Besprechung: „Vielleicht hat dieser düstere Ausblick den Autor derart fatalistisch gestimmt, dass er gleich nach Veröffentlichung seines anregenden, obgleich offenbar unlektorierten „Insiderberichts“ (voller Rechtschreibfehler) angekündigt hat, zum Jahresende seine seit einem Vierteljahrhundert bestehende Konzertagentur zu schließen.“ Zuvor hatte der FAZ-Journalist Seligers Resüme: „Popmusik ist heute kaum noch etwas anderes als Werbeträger für Biermarken, Modelabel, Autohersteller, Versicherungen, Banken und Telekommunikations-Unternehmen“ mit dem Kontrapunkt versehen, dass folglich Adorno wohl recht behalte, indem er Popmusik immer schon „als Konsumbrei verhasste Unterhaltungsmusik“ bezeichnet hätte. Die Neue Zürcher Zeitung findet, „Seliger verhehlt dabei nie seine musikalische und ideologische Herkunft: Er ist ein bewegter Kopf aus den achtziger Jahren und ein Bewunderer von Patti Smith, Pere Ubu, Bonnie «Prince» Billy.“. Was daran an ideologischer Provenienz schon herauszulesen wäre, das erschließt sich mir nicht genau. Hanspeter Künzler trifft dann, im Artikel vom 10.1.2014, nochmal daneben, wenn er Seliger so versteht, dass dieser gemeint haben soll: „Bald (…) würden es sich nur noch Sprösslinge aus gutem Hause leisten können, die Musik zu machen, die sie wollten.“. Ich hatte es so verstanden, dass nur nur Söhne und Töchter aus ökonomisch abgesicherten Verhältnissen sich noch Jobs ausschließlich  im Kulturbereich leisten können. Der Rest macht natürlich die Musik, die ihnen gefällt, nur eben für lau. Qualität, das betont auch Seliger ist gottlob was anderes. Natürlich outet sich Herr Künzler da selbst ein wenig. So ähnlich geschah das am 1. April 2015 im Deutschlandfunk, als eine junge Journalistin Marco Maurer, Autor des Buches „Du bleibst, was du bist – Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet“ (Droemer Knaur, München 2015), das sich leider fatalistisch statt kämpferisch mit Klassenungerechtigkeit in der Kulturwirtschaft beschäftigt, ernsthaft fragte, ob es denn nun mal nicht „normal“ sei, dass eben Journalismus hauptsächlich von Menschen gemacht werde, die aus einem Bildungselternhaus stammten … Aprilscherz? Wenn ja, subtil.

Eine grundsolide Besprechung fand ich dann doch noch vor in Form eines von Andreas Schneitters für die Schweizer Tageswoche vom 17.1.2014 verfassten Artikels. In Schneitter zeigt sich ein vorgebildeter Autor („Um diesen Befund zu teilen, muss man nicht zwingend Seligers Buch lesen.“), der offenbar den ganzen Text las und so wichtige Stellen sicher herausstellen kann: „Seliger erweist sich, aller Empathie und Erzürnung zum Trotz, in seinem Buch auch als kühler Diagnostiker, der die genannten Entwicklungen in einem größeren Rahmen begreifen kann. Das System triumphiert, weil seine Träger es so wollen: die Firmen, die Politik, die Konsumenten, die die Preise zahlen und die eben diese Vertreter wählen, die erst die politischen Rahmenbedingungen bilden. Und nicht zuletzt die von der ‚Kreativindustrie‘ angezogenen jungen Menschen, die sich für Hungerlöhne aufreiben“… KÖNNEN … hätte er nur noch hinzufügen sollen.

Seligers Meta-Forderung seines sehr lesenswerten „Insiderberichts“: Live and let live, muß man heute, ein Jahr nach ihrem Erscheinen, als eine strukturell richtige Kritik der Besinnung auf eine Kultur-Neubewertung gegenüber von gesichtslosen, industriellen Verwertungs-Gesellschaften begreifen. Wertschätzung, die ihrem Name Ehre machte, bestünde für Seliger in einem Austausch, bei dem niemand ausgebeutet wird. Klaus Walter brachte beim Radio-Interview mit Berthold Seliger (HR2, 14.02.2014) dazu den Begriff „Fair Trade“ ins Spiel. Ja, sagte  Seliger: „ein bisschen sind wir, wenn man so will, die Bio-Bauern der Branche“. Schön wäre es, wenn dieser sogenannte Fair Trade sich weiter ausbreiten könnte. Weder die Masse der Erzeuger, noch die der Verbraucher sind derzeit in dieser Kette wirklich gleichgestellt – dies bestenfalls gleich schlecht. Rückgekoppelte Kultur-Wirtschaft im Sinne des Autors Seliger („Wir alle haben in der Hand, was aus unserer Kultur wird“) könnte bedeuten, dass eine Gesellschaft ihren Problemen zugewandter und dadurch schlauer und sozialer werden kann. Letztlich dreht sich alles um die Definition von Werten, nicht von Waren – folglich auch um eine Neubewertung von Arbeit. Dabei zwischen kulturell relevanter Arbeit und sonstiger Arbeit zu trennen, ist wohl unmöglich. Folglich geht es um Alles, um Ideale, um Gerechtigkeit endlich mal wieder.

Berthold Seliger „Das Geschäft mit der Musik: Ein Insiderbericht“, Edition Tiamat, Berlin, sechste Auflage 2014

Nächste Lesung am 07.08.2015 in Luhmühlen auf dem „A Summer’s Tale Festival“.

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