Freiwillig beheimatet
Text: Redaktion | Ressort: Literatur | 1. Juni 2021Christoph Szalays Buch „ RÆNDERN“
Der 34jährige Grazer Christoph Szalay ist in deutschsprachigen Lyrik- und Künstlerkreisen längst kein Unbekannter mehr. Denn seit mehr als zehn Jahren stellt er kontinuierlich und konsequent vielbeachtete trans- bzw. interdisziplinäre Werke her: Sei es an den Grenzen der Lyrik, der Bildenden Kunst oder der Performance. Stets werden Methoden einer Kunstdisziplin in eine andere übertragen. Es scheint, dass er sich mit einer Gattung kaum zufrieden gibt und er den Austausch, die Adaptierung braucht, um auch auf stilistischer Ebene neue Perspektiven aufzuzeigen. Allerdings haben diese hybriden Formen einen hohen Preis: Welcher gewichtige Verlag ist bereit, jenseits der gängig-kommerziell erlaubten Genres und Gattungen, inter-/transdisziplinäre Werke anzubieten? Man bräuchte einen Verlag wie den belgischen L’arbre de Diane, der etwa das Werk „Pages Vivantes / Living Pages“ des wallonischen Lyrikers und Künstlers Maxime Coton samt selbstklappbarer Virtueller Brille (!) anbietet. Ärgerlich, dass es solche Verlage nicht im deutschsprachigen Raum gibt, und somit keine Sichtbarkeit inter-/transdisziplinärer Künste aufscheint.
Zurück zu Szalay, der 2009 mit dem Band „stadt / land / fluss“ sein Debüt machte, gefolgt von „flimmern“ im Jahr 2012. Beide Bände sind im Verlag Leykam erschienen. Darin zeigt sich, wie früh Szalay souverän mit Konzept- und Collagemethoden arbeitet. Neben dem Transdisziplinären sprengt er jegliche literarische Gattungen: Sind diese Texte nun Gedichte, verdichtete Kurzprosa, Essaygedichte, Aphorismen, Dialoge? Sind solche Zuordnungen überhaupt wichtig?, so mag uns Szalay zu Recht fragen. Im angelehnten Albumtitel von Bruce Springsteen „Asbury Park, NJ. Eine Elegie“ (°luftschacht, 2013) kommt noch die Fotografie ins Spiel, die als Teil des Band-Konzeptes wie selbstverständlich mit dazugehört. Rock meets Fotografie meets Lyrik. Neben und mit Texten performt Szalay mit Künstler*innen und -Gruppen, etwa mit F.O.U.R.D.U.M.M.I.E.S., Marta Navaridas und Alex Deutinger, sowie mit Natascha Gangl. In Szalays letzten Werken und Performances stehen zunehmend gesellschaftsrelevante Themen im Mittelpunkt, etwa Migration, Queerfeminismus, Rassismus. Stets im Verhältnis zwischen dem Du und dem Ich, zwischen Individualismus und Gemeinschaft. Im permanenten Zweifel, in ständiger Infragestellung, in der stetigen Reflexion.
Genauso geht Szalay in seinem neuesten Band „RÆNDERN“ (Ritter) vor. Darin beschäftigt er sich hauptsächlich mit Heimat, mit dem schwierigen Heimatbegriff; wie sich Heimat im Alltag und in der Sprache widerspiegelt. Ausgehend von einer territorialen Beschreibung von Heimat im ersten Zyklus „sag, was nennst du Heimat“, – mit den ach so idyllischen Gipfeln, Tälern und Glockengeläut – werden schonungslos sowohl Abgründe aufgezeigt als auch der Begriff von den Rändern her hinterfragt. Nicht nur geographisch wird eingeordnet, sondern auch sprachlich, historisch, und was aus dem kollektiven Gedächtnis selektiv zu holen ist. Gerade Letzteres, mit dem Einrändern des Heimatbegriffes in die Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten, spürt Szalay brillant-erschreckend als Niederschlag im heutigen Alltag auf. Etwa bei Aussagen in Sozialen Medien, wo unbedarfte Geschichtsrelativierung und -Verklitterung stattfindet: „weißt du irgendwann is‘ es doch gut irgendwann kann manʼs doch gut sein lassen sagst du man, six billion thatʼs quite a bite, man, but hey, the timeʼs flyinʼ you know what i mean #chillinindachau“.
Im letzten und weitaus längsten Zyklus, „Heimat (Fade-out)“, werden die unterschiedlichen Aspekte von Heimat zusammengetragen – mit einem überraschendem Ende. Auf der einen Seite – im wahrsten Sinne des Wortes: die geraden Seitenzahlen – werden Auszüge eines Heimat-Vortrags von Martin Sellner, Vorsitzender der Identitären Bewegung Österreichs, vorgestellt. Auf der anderen Seite werden Essaygedichte, Zweizeiler, Video-Ausschnitte, Überschreibungen, Zeichnungen, Hip-Hop-Lyrics und Manifeste dem unterkomplexen Heimatbegriff Sellners entgegengestellt. Um es politischer auszudrücken: Dem ius sanguinis, ius soli und ius culturae wird mit ius voluntatis entgegengewirkt. Wie sich die sardische Schriftstellerin Michela Murgia – bekannt auch in Deutschland mit ihrem Roman „Accabadora“ – in einem Essay für das Prinzip/das Recht auf Freiwilligkeit ausspricht, einer Gemeinschaft anzugehören. Kurz: ius voluntatis. Bei Szalay werden queerfeministische, antirassistische, alternative Positionen angeführt, und auf diese Weise der Heimatbegriff heruntergedimmt, wie es im letzten Zyklustitel folgerichtig heißt. Er emanzipiert sich so von einem exklusiven Heimatbegriff und triumphiert am Ende des Buches mit: „deine Kategorien sind ab hier unbrauchbar“.
Ein beeindruckender Schluss – und doch wirft er die Frage auf, ob man sich des Heimatbegriffs so entledigen kann? Andere Stimmen, wie etwa Peter Zudeick in seinem Buch „Heimat. Volk. Vaterland“, plädieren von den Nazis kontaminierte Wörter links wieder zu vereinnahmen, sie umzudeuten. So, wie es, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, der Philosoph Ernst Bloch gefordert hatte. Allerdings sehen wir im politischen Diskurs, wie konservative und rechtsextreme Gruppierungen – und dies zeigt ja gerade Szalay – Heimat, Vaterland, Nation, Leitkultur in eine neuartige Blut-und-Boden-Ideologie einfassen. Und so tut es gut, dass Szalay in poetischer, und Murgia, in politischer Hinsicht, mit ihren selbstgewählten, selbst ausgesuchten Zugehörigkeiten abseits von Blut, Boden und vermeintlicher überlegener, abendländischer Kultur dagegen halten.
Von Angelo Algieri
Christoph Szalay: RÆNDERN. Ritter Verlag, Klagenfurt/Graz 2020. 120 Seiten. 13,90 €. ISBN: 978-3-85415-607-9.