Haltlos

Text: | Ressort: Film | 5. April 2023

Emily Atef hat den Wende-Roman »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« der Leipzigerin Daniela Krien adaptiert.

Sommer 1990 in einem Dorf in Thüringen: Die 18-jährige Maria verbringt die Zeit auf dem Hof der Familie ihres Freundes Johannes. Ein Zustand des Schwebens zwischen dem, was war und der Ungewissheit, die vor ihnen liegt. Sie verbringt ihre Zeit lieber damit, »Die Gebrüder Karamasow« zu lesen, als in die Schule zu gehen. Die meisten ihrer Lehrer sind ohnehin in den Westen abgehauen. Der Betrieb, in dem ihre Mutter arbeitete, wurde abgewickelt. Ihr Vater hat die Familie verlassen. Während Johannes von einer Zukunft als Fotograf träumt und sich für das Studium an der HGB in Leipzig bewirbt, streunt Maria durch die Nachbarschaft und trifft auf den alleinstehenden Bauern Henner. Die junge Frau fühlt sich gleich zu dem gebrochenen 40-jährigen Mann hingezogen, der die Köpfe der Frauen im Dorf verdreht. Zwischen den beiden beginnt eine verhängnisvolle Affäre.

Die »Amour fou« in der ostdeutschen Provinz hat die Leipzigerin Daniela Krien aufgeschrieben, die 2020 mit dem Sächsischen Litertaturpreis ausgezeichnet wurde. Regisseurin Emily Atef (»3 Tage in Quiberon«) las den Roman und war gefangen. »Ich habe schon beim Lesen den gesamten Film vor mir gesehen«, sagt Atef. »Das liegt an Danielas Sprache, die sehr präzise und minimalistisch ist. Ihre Dialoge und Beschreibungen von Menschen sind sehr filmisch und mit einer ganz eigenen Poesie versehen. Ich musste diesen Film einfach machen.« Sie schrieb ihr einen Brief und zwischen den beiden Frauen entstand ein Band. »Wir haben uns kreativ und menschlich so gut verstanden«, erzählt Atef, »dass wir dieses Drehbuch wahnsinnig schnell geschrieben haben.« Sie adaptierten den Roman gemeinsam, Krien schrieb die Dialoge, Atef unter anderem die animalischen Sexszenen. Nur das Alter der Hauptfigur wurde angepasst, um den Film nicht auf einen Skandal zu reduzieren, denn im Buch ist Maria ein 16-jähriges Mädchen. Die Liebenden begegnen sich nicht nur auf eine körperlichen Ebene, sondern auch auf einer intellektuellen durch die gemeinsame Leidenschaft zur Literatur.

Die Ereignisse der Wendejahre spiegeln sich in Dostojewski und der Haltlosigkeit der Beziehung. Das kleine Drama ist eingebettet im ganz großen. Johannes’ Onkel, der den Osten vor Jahren verließ, kommt zurück zur Familie mit seiner eigenen, die er sich aufgebaut hat. Er trifft auf die Enttäuschung, den Frust, die Perspektivlosigkeit, aber auch die Menschlichkeit und Wärme. Man sieht in den Figuren die beiden Hälften eines Landes, das lange brauchen wird, um zusammen zu wachsen.

Armin Dierolf (»Drii Winter«) fasst das mit seiner Kamera in die warmen, sinnlichen Bilder eines Sommers. Die Hauptrolle übernahm Marlene Burow, die zuletzt in Aelrun Goettes DDR-Drama »In einem Land, das es nicht mehr gibt« vor der Kamera stand. Ihr gegenüber steht Felix Kramer (»Freies Land«) als Henner. Gedreht wurde »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« in Thüringen, der Hof war ein altes Rittergut in Teichwolframsdorf an der sächsischen Grenze. Weitere Aufnahmen fanden in Anaberg-Buchholz statt. LARS TUNÇAY

»Irgendwann werden wir uns alles erzählen«: ab 13.4. im Kino

-->

Die Kommentarfunktion ist abgeschaltet.