Paldiski – The Wald Is Gone

Text: | Ressort: Diary, Literatur | 15. September 2008

Bis gerade eben sah alles noch gut aus. Gespenstisch schön war der Anblick aus der Distanz. Vor den steilen Klippen, unter dem strahlend blauen Himmel, über der grau und kalt gegen die Felsen schwappenden Ostsee, hing die Nebelwand, so als trennte sie wahrhaftig Himmel und Hölle. Nur langsam kroch der Nebel näher. Wir wähnten uns sicher und machten lustige Fotos. Wir lachten noch, als wir über den versiegelten Bunker kletterten. Und wir scherzten, als sie sich zum Pinkeln in das faulende Gerippe einer verfallenen Russenbaracke setzte. Ob ihr Urin wohl septische Substanzen aus dem verseuchten Boden dampfen ließ, geradewegs in sie hinein, neckte ich sie. Und sie grinste. Wir zwei – zwei Doofe, ein Gedanke. Etwas gruselig fand sie die Vorstellung dennoch. Ich auch, keine Frage. Vor ein paar Jahren hat sich ein Mann auf einer Müllkippe bei Tallinn verstrahlt, als er mit radioaktiven Abfällen in Berührung kam, die angeblich von hier, von dieser ehemaligen russischen Militärbasis, dorthin geschmuggelt worden waren. Der Mann ist krepiert. Aber man könnte hier nicht so ungestört herum wandern, wenn es lebensgefährlich wäre, zwischen dem bröckelnden Beton und dem modernden Holz, auf dem die Sowjetunion hier, in Estland, einst errichtet war, man dürfte das nicht, das stünde nicht im Reiseführer, verboten wäre das. Entlang der Straße und der Wege, die das Areal zerschneiden, wurde es nicht übertrieben mit Warnschildern. Nur auf eine alte Kasernenwand, zwischen ausgeschlagene Fenster, hat jemand „Welcome to Hell“ gesprüht. Die umgedrehten Kreuze, die diese Grüße aus der Unterwelt rahmten, ließen uns aber eher Black Metal vermuten, als schiere Verzweiflung. Eindeutiger war vielleicht der Hinweis, man betrete nun Silent Hill, auf einem Lattenzaun, gleich hinter dem restaurierten und völlig deplatziert hübschen Bahnhof aus baltischem Holz. Aber wir hatten auch über dieses Zeichen gewitzelt. Und nun, noch ein paar Kilometer im ruinierten Camp, war hinter uns Estlands größter Leuchtturm verschwunden. Nicht dass es wirklich schade um dieses recht unbeeindruckende Bauwerk war, nur verschwinden, lautlos verschluckt werden, darf auch so ein Gebäude nicht, und auch die hässlichen, mit stetem Summen rotierenden Windräder waren nicht mehr. Es steht nicht umsonst im Alten Testament und bei Gustav Schwab, der uns die Sagen des Griechischen Altertums deutsch aufbereitet hat: wenn du auch glaubst, die Hölle hinter dir gelassen zu haben, dreh dich verdammt noch mal nicht um! Dreh dich, um Gottes Willen, niemals um! Von hinten, leise und heimtückisch, war uns vom Meer der Nebel nachgekrochen, und alles was vor Augenblicken noch beeindruckend widerlich, obszön skelettisch und bucklig verwachsen aus der ruinierten Landschaft geragt hatte, war bereits in diesem maßlos gefräßigen Nichts verschwunden. Natürlich war es viel zu spät, jetzt noch zu rennen. Wir fassten uns bei den Händen. Wir sahen uns in die Augen, ein letztes Mal. Und dann war die Welt verschwunden, und wir waren verschwunden, und es ward unerträglich kalt und totenstill.

„Das geht vorbei“, beruhige ich sie. „Wir laufen da durch.“
„Wann geht es vorbei?“, fragt ihre Stimme.
Und ich sage: „Im Wald ist es vorbei. Wenn wir wieder in den Wald kommen, um den wandert der Nebel außen rum.“
„Hier draußen ist nichts, was den Neben aufhalten kann“, erkläre ich ihr. Der riesige Hangr für nukleare U-Boote, der einst wie ein grausamer, dunkler Berg seinen Schatten über ganz Paldiski warf, der ist nicht mehr. Die Kasernen sind nicht mehr. Die Wachtürme sind eingerissen und die Bunker überwuchert. Und die Soldaten saufen Wodka in Berlin-Marzahn. Nichts steht hier mehr, was den Nebel hätte aufhalten können.
„Wo ist der Wald?“, fragt sie noch ängstlicher.
Und ich entgegne, etwas zu harsch lege ich ihr nahe, den Mund zu halten, still zu sein, so dass wir unsere Schritte hören können; denn solange wir hören, dass wir auf Asphalt laufen, müssen wir nicht zweifeln, dass wir bald schon den Wald erreichen werden.

Eine ihrer beeindruckendsten Eigenschaften ist es, dass sie wirklich ununterbrochen reden kann. Stundenlang. Den ganzen Tag. Mit Stolz erzählt sie häufig die Anekdote, dass ihr ihre Großmutter mal zwei Mark angeboten hat, damit sie zwei Minuten, nur zwei Minuten, den Mund hält. Sie hat das Geld genommen und zwei Minuten den Mund gehalten, exakt zwei Minuten (sie hat auf die Uhr geschaut). Es ist also nicht verwunderlich, dass sie auch in dieser völlig undurchsichtigen Situation, durch die wir uns fast orientierungslos bewegen, ihre Stimme viel beruhigender empfindet als den stumpfen, leisen Klang unserer Schritte – das einzige Zeichen, das uns versichert, dass wir noch Boden unter den Füßen haben.


Fortsetzung morgen
oder auf Papier lesen in Persona Non Grata 74.

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