Paldiski (2) – Im Nebel, Barmherzigkeit

Text: | Ressort: Diary, Literatur | 17. September 2008

Der Nebel hat auch sein Gutes, stellt sie fest, und ihre Stimme, die diese Worte ganz dünn, kaum hörbar, über ihre Lippen zittern lässt, widerlegt sie augenblicklich. Sie kämpft dennoch weiter, auf ihrem bereits verlorenen Posten: So ein Nebel muss das Leben in Paldiski für eine Weile etwas erträglicher machen, beharrt sie. Die letzten Russen dort müssen sich nicht mehr in die mürrischen Gesichter sehen, sie müssen sich nicht grämen, wenn sie vorbei laufen, an leeren Sockeln, von denen Denkmäler für die Sowjetarmee gerissen wurden, und sie vergessen vielleicht für einen Tag die für immer unverputzten Fassaden der Wohnblöcke, in die sie sich nach der Arbeit verkriechen – wenn sie Arbeit haben.

Es sieht hier auch nicht viel schlimmer aus, als in einem ostdeutschen Neubaughetto, versteife ich mich auf die Meinung, die ich bereits vor ein paar Stunden bekundet hatte. Als wir vom Bahnhof durch die Stadt gekommen waren, hatte ich mich geweigert, jede aufgesprungene Häuserwand zu fotografieren, auf die sie mich aufmerksam machte. Paldiski hat Klippen und einen Leuchturm und ein verseuchtes Armeelager, für den, der sowas braucht. Neubrandenburg und Schwedt haben das wahrscheinlich nicht, stelle ich fest – abschließend, wie ich meine.

Paldiski hatte einen Leuchturm, korrigiert sie mich: hatte – das war bevor der Nebel kam. Was zu beweisen war: im Nebel ist nichts Gutes, bestehe ich auf mein letztes Wort, aber natürlich bin ich gegen sie ohne Chance. In den Momenten, in denen ihr die Stimme ganz versagt, lauschen wir unseren langsamen, vorsichtigen Schritten, auf einem unendlich langen Weg, einem ununununendlich langen Weg. Sie hat längst begonnen, an mir zu zweifeln.

„Du hast gesagt, sobald der Wald beginnt, wird sich der Nebel lichten“, wirft sie mir vor.
Ich kann mich nicht retten. Natürlich habe ich ihr Mist erzählt. Wenn man nichts sieht, braucht man doch wenigstens ein Ziel. Sie jammert. Sie weigert sich weiterzugehen. Ich muss sie ziehen. Willkommen in der Hölle.

„Was ist das?“, fragt sie. Und erst als ich, selbst erschrocken, durch den Nebel schaue, in die Richtung, in die sie mit ihrem Arm deutet, fällt mir auf, dass ich sie wieder sehen kann. Im Nebel, in der Richtung, in die sie mit ihren wie steif gefrorenen Fingern deutet, sehe ich nichts.
„Doch, doch … da war was“, beschwört sie mich: „da war ein komischer, großer Schatten“.
Ich ziehe sie in diese Richtung. Nicht weil ich noch Lust auf Abenteuer habe. Das ist nur leider der Weg, den wir gehen müssen. Der Nebel hat sich endlich satt gefressen, und nach und nach rülpst er wieder sanfte Konturen und scheidet gar am Straßenrand ein paar krumme Bäume aus.

„Da ist es wieder, da ist es wieder.“

Sie reißt mir fast den Arm aus. Aber tatsächlich, jetzt sehe ich es auch. Es sieht aus wie ein riesiges Tier, riesig, mit einem Rüssel oder einem dicken Horn. Sie will nicht weiter gehen, sagt sie. Ich will auch nicht weiter gehen. Ich soll was machen, sagt sie. Ich will auch nichts machen. Wir stehen da und starren, starren auf den Schatten, der sich uns langsam, mit instinktiver Gelassenheit, nähert. Wir starren, als sich der Schatten teilt. In zwei Schatten. In drei Schatten. Wir starren, als wir zwei Frauen erkennen, die ein riesiges Fernglas auf einem Stativ vor sich hertragen. Und wir starren immer noch, als eine der Frauen „Hallo!“ sagt und die andere fragt, ob wir bis in die Stadt mitfahren wollen, in ihrem Auto, das hier irgendwo stehen muss.
Wir suchen gemeinsam. Der Nebel macht es uns immer leichter. Paldiski ist bekannt für die Artenvielfalt unter den Vögeln, die man an den Klippen beobachten kann, deutet die Fahrerin unsere Blicke auf ihr Fernglas. Davon abgesehen, stellt sie fest, ist Paldiski aber ein seltsamer Ort für Touristen. Oder ein Ort für seltsame Touristen, kann ich mir nicht helfen. Das ist schon zwanghaft, dieses Klugscheißen.



Musik dazu:
Unholy – „From the Shadows“

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