Hinter der Maske – Tarsem Singhs The Fall

Text: | Ressort: Film | 12. März 2009

Nichts ist so, wie es scheint in Tarsem Singhs zweitem Film The Fall. Und doch ist es das Auge für die Reinheit des menschlichen Seins, das ihn ausmacht. Ein Blick hinter die Maske.

Der Schein trügt. Ein Kind ist die Hauptfigur dieses Märchens und doch ist The Fall kein Kinderfilm. Die aufwändigen Sets und die magischen Bilder füllen in überwältigender Perfektion die Leinwand und doch ist der Einsatz von CGI minimal. Die Handlungen der Figuren wirken real und doch sind es nur Schauspieler. Es ist eine Sinfonie magischen Realismus, die Regisseur Tarsem hier auf Zelluloid bannte. Wenn in der Eröffnungssequenz eine tragische Choreographie zu Beethovens Siebter in Zeitlupe vor unseren Augen flimmert, in zeitgemäßes Kolorit getaucht und von unfassbarer Schönheit, sind wir betört. So sieht Kunst aus, kein Zweifel.

Gleichzeitig zeugen diese Bilder von Tarsems künstlerischer Herkunft. Seine ersten Werke schuf er für MTV. „Losing My Religion“ von R.E.M. dürfte dabei noch den meisten vor Augen sein. Schon damals war jedes seiner Bilder ein Kunstwerk, perfekt ausgeleuchtet, makellos inszeniert. Diese Art des „photographischen Filmens“ zeigte sich auch bei seinem ersten Langfilm The Cell. Der Clou war hier die Reise in das kranke Hirn eines Serienkillers. Dort konnte Tarsem seine Phantasie voll ausleben. Er schuf vollkommene Gemälde, berauschende Kostüme und Masken in einer albtraumhaften Welt. Wehende Gewänder, weite Wüstenlandschaften, darin J.Lo in einem weißen Kleid – visuelle Vollendung. Zu viel für die Maschine Hollywood, die aus diesem Kunstwerk am Ende einen konventionellen Killer-Thriller machte.

Tarsem wandte sich ab von Großproduktionen und reiste; in seine Heimat Indien, nach Südafrika, Ägypten, China. Im Gepäck schlummerte sein Meisterstück. Der Affe auf seinem Rücken wurde immer schwerer, wie er es darlegt. Insgesamt 17 Jahre suchte er nach den perfekten Orten und den richtigen Akteuren, bereiste 18 Länder und lies hunderte Kinderdarstellerinnen vorsprechen. Als er schließlich unter ihnen die damals achtjährige Catinca Utaru aus Rumänien entdeckte, schien sich der Kreis zu schließen. Tarsem wusste, er hatte die Richtige gefunden und begann umgehend mit den Dreharbeiten. Alles sollte unverfälscht und rein bleiben. Catinca sprach damals kaum Englisch, hatte keinerlei Filmerfahrung und verlor gerade ihre Milchzähne. Tarsem nutzte ihre unbedarfte Art zum Vorteil des Films. Er drehte nur an Originalschauplätzen und wollte nicht, dass für die Kleine durch die Erschaffung von Sets etwas von der Illusion der Geschichte genommen wird. So traf Catinca ihren Schauspielpartner Lee Pace das erste Mal in ihrer ersten gemeinsamen Szene, als die Kameras bereits liefen. Für sie war Pace wie im Film wirklich unfähig zu laufen. Die Mischung aus Angst und Neugier, die diese Szene aus den Augen des Kindes bestimmt, ist echt. Erst allmählich gewinnt Catinca ebenso wie Alexandra, die Figur, die sie in der Geschichte darstellt, Vertrauen zu dem Fremden und freundet sich schließlich mit ihm an.

Der gefallene Stuntman liegt paralysiert in einem Bett des Krankenhauses, durch dessen Gänge Alexandra streift. Auch sie ist aus dem Gleichgewicht geraten und hat sich den Arm gebrochen. Bei dem seltsamen Mann mit den bandagierten Beinen sind mehr als nur die Knochen zertrümmert. Eine unglückliche Liebe treibt ihn in Selbstmordgedanken, und Alexandra muss bald feststellen, dass er sie nur benutzt. Mit seinen Geschichten des maskierten Banditen, der Rache an seinem Widersacher nehmen will und dafür eine illustre Schar an Mitstreitern um sich schart, die alle eine Rechnung mit der Nemesis des Banditen offen haben. Die Geschichte wird durch die Realität beeinflusst und umgekehrt beeinflusst die Erzählung die beiden Protagonisten. Alles fügt sich, steuert der emotionalen Klimax entgegen und entlädt sich in Sturzbächen aus Tränen, wie wir sie lange nicht mehr im Kinosessel geweint haben. Tränen des Leids ebenso wie der Freude.

Catincas Reinheit bestimmt den Film. Das Geschick, sie einzufangen und für sich zu nutzen, ist die eigentliche Kunst Tarsems. Seine Geschichte wird erzählt durch die Augen eines Kindes und das ist nicht nur eine Floskel. Wir freuen uns mit kindlicher Begeisterung darüber, wenn die Guten gewinnen und leiden mit dem gebrochenen Herzen einer Achtjährigen, wenn das Böse triumphiert. „Am Schneidetisch überlegte ich, ob ich einige Szenen neu drehen sollte und entschied mich schließlich dagegen“, gesteht Tarsem. Ein Glück, denn das Holprige, Fehlerhafte in einigen Momente verleiht ihnen eine Menge Charme.

Demgegenüber stehen die atemberaubenden Bilder von brennenden Bäumen, maskierten Häschern des Bösen, schwimmenden Elephanten und rituellen Zeremonien Eingeborener. Prunkvolle Paläste und abstrakte Kostüme in leuchtenden Farben zeugen von der visuellen Stärke des Inders. Christliche Symbolik trifft auf asiatische Ästhetik und es entsteht eine surreale Welt, die von den Werken Dalis und Goyas inspiriert ist. Das Plakat ist mit der Maske des Banditen und den zu einem Mund geformten Blumen deutlich Dalis „Face of Mae West Which May Be Used as an Apartment“ von 1935 nachempfunden. Ein weiterer Hinweis auf Tarsems Liebe zur bildenden Kunst.

The Fall ist Kino in seiner reinsten Form: Zelluloid gewordene Phantasie, eine zweistündige Reise in die Imagination eines Ausnahmekünstlers, eine Flucht in die Träume unserer Kindheit. So überbordend fern und ungreifbar, dass es sich als schwer herausstellte, das Werk zu vermarkten. Schlimmer noch, als die Kategorisierung als Kinderfilm auf der Berlinale 2007, wo der Film seine Europapremiere feierte, wiegt die Einstufung der MPAA als ‚Rated R’ – nur für Erwachsene. The Fall ist ein Film für Kindgebliebene. Egal ob die Zuschauer nun 12 oder 50 Jahre alt sind, berührt er uns dadurch, dass er zutiefst von Menschlichkeit durchdrungen ist. Da dies jedoch etwas ist, was insbesondere in einer Industrie, die Träume verkaufen will und Kunst als Marke kreiert, niemanden interessiert, suchte The Fall lange nach einem Verleih. Als letzte Instanz griff Tarsem auf das Angebot seiner Weggefährten David Fincher und Spike Jonze zurück, die er noch aus den Anfangstagen als Videoclipregisseur kannte. Sie krönten den Film mit ihren Namen und sorgten dafür, dass er einen US-Start erhielt, die Basis für eine Distribution in den Rest der Welt. So kommen auch wir nahezu drei Jahre nach seiner Fertigstellung in den Genuss dieses schimmernden Diamanten, der seinen Glanz entfaltet, wenn unsere Emotionen Licht auf ihn werfen. „A little blessing in disguise“ – fürwahr ein Segen hinter der Maske.

The Fall startet über Capelight Pictures/Central.

Dies und mehr in der demnächst kommenden PnG #77.

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