Roskilde 2009 – So war’s
Text: Klaus | Ressort: Diary, Musik, Veranstaltungen | 3. August 2009Roskilde Festival, 2.-5.7. 2009, Dänemark
– 67.413 Festivaltickets (für alle vier Tage)
– 12.931 Tagestickets
– 1.170 Senioren über 60 nutzten den freien Eintritt am Sonntag
– ca. 190 Acts, Künstler, Bands, DJs
– Das beste Wetter seit 33 Jahren.
Alljährlich grüßt das Murmeltier oder von mir aus nennt mich Wiederholungstäter. Die Fahrt nach Roskilde ist seit langem fester Bestandteil meiner Jahres-, Sommer- und Urlaubsplanung. Ohne geht nicht! Ja, weit weg, aber mittlerweile nimmt man die Strapazen der Fahrt nicht mehr war. Alles ritualisiert, der Ablauf auf Autopilot. Und dann trifft man sich vor Ort mit Freunden, Gleichgesinnten, langjährigen Weggefährten erzählt sich dies und das, ist wieder zu Hause in der Roskildefamilie. Am Donnertag zum Frühstück errinnert man sich, wie es in den vergangen Jahren war und führt sich vor Augen, wie es auch diesmal sein wird: Kaum angefangen, ein Wimpernschlag und schon wird es wieder vorbei sein, wird Montag sein, Zelt und Habseeligkeiten zusammengepackt werden müssen und der Heimweg angetreten werden. Dem Alltag entgegen, bis zu nächsten Jahr.
Und genau so war es natürlich auch. Vier anstrengende Tage in praller Sonne, Staub, kilometerweiten Wegen, müden Füßen vorbei, wie weggeblasen. Klacks – ein Fingerschnipps. Alles nur für dieses Gemeinschaftsgefühl, Friede, Freude, Eierkuchen, ein Freiheitsgefühl und natürlich die Musik. Das Lineup müßte man sich eigentlich gar nicht vorab anschauen. Bei der schieren Masse des Angebots findet nahezu jeder etwas Interessantes, womit sich der Tag verfeinern läßt, was man schon immer mal sehen wollte, was man in der Vergangenheit stets verpasste, was momentan als der heiße Scheiß gehandelt wird und was noch keine Sau kennt und womit man anderen Nerds noch monatelang in den Ohren liegen kann. „Die hab ich doch schon vor zwei Jahren in Dänemark gesehen….“
Was soll ich sagen? Auch diesmal war es die Reise wert und wer im nächsten Jahr hier ist steht außer Frage. Nennt mich meinetwegen auch Überzeugungstäter!
Anbei nun ein paar kommentierte Impressionen:
Donnerstag: Check-In und Bändchentausch.
Das Areal hier nennt sich „Get A Tent“. Man kann da ein aufgebautes Zelt erwerben. Der Hauptvorteil dürfte hierbei sein, dass man sich nicht in das archaische Gedränge auf dem normalen Zeltplatz stürzen muss und man dort nicht ewig und in der hintersten Ecke nach einem Stellplatz suchen muss.
Der normale Zeltplatz. In diesem Jahr aufgrund der Kiesgrube vor dem Festivalgelände mit stark verändertem Layout undlängeren Wegen für mehr Leute als bisher.
Kleine Pinkelhilfe am Wegesrand
Der musikalische Auftakt geriet fulminat mit Wolves In The Throne Room. Black Metal mit Anleihen bei Doom und Postrock gepaart mit ökologischem Bewußtsein. So kann die Zukunft des Genres aussehen. Die Platte ein Tipp!
Thema: alte Haudegen. Social Distortion, routiniert die Meute gerockt-
Neuerung in diesem Jahr: Das grüne Riesenrad. Zunächst fünf Minuten Strampeln auf dem Hometrainer für die nötige Energie und dann drei Runden drehen mit sagenhaften Ausblick aus 30m Höhe über das Festivalgelände.
Hauptbühne (angegebene Kapazität: 60.000 Menschen), links Cosmopol (6.000 Plätze) und dazwischen weiter hinten die Spitzen des Odeon Zelts (5.000).
Blick nach Rechts, Arena (17.000 Zuschauer) und Fressbuden
Apropos „Dynamo“ so heißt auch die aktuelle Platte von Jens Berents Christiansen aka Rumpistol. Frikelige tanzbare Electronic, sehr zu empfehlen.
St. Vincent alias Annie Clark verzauberte mit den Songs der aktuellen Veröffentlichung „Actor“ und dem Debüt „Marry Me“ das Publikum. Bei der Liveperformance kam dann auch noch ein überraschender Aspekt hinzu, der sich aus der Musik allein nicht so vordergründig erschließt und zwar die Karrikatur oder Dekonstruktion von Rockismen, wie das Zerstückeln von Gitarrensolos inklusive der dabei sonst häufig, vorwiegend von den Herren der Schöpfung, gebrauchten Posen. Großes Kino: darstellerisch, wie musikalisch. Ein Highlight.
Herr Trentemøller als DJ mit Gästen, ganz was anderes als seine Electronicplatten. Nicht feingliedrig ziseliert, nein grob behauener wirkungsvoller Big Beat der die Fläche vor der Hauptbühne zur Megatanzfläche werden lies. Dazu Sharade, Tanzgruppe und o.g. Gastauftritte.
Freitag: Jaaaa!!! Black Metal am Morgen, vertreibt Hunger und Sorgen. Gegen 13.00 Uhr ließen die norwegischen Satanisten die Jünger antreten, um die Läuse aus der Matte zu schütteln.
Eben noch teuflische Kirchenbrandstifter und nun Reggaelegende satt. Pablo Moses & U-Roy charismatische Musikgeschichte. Hier im Bild der 66jährige U-Roy, einer der ersten Toaster überhaupt. Und nun bitte keine Geschichten über Küchengeräte… Respekt, Alter!
Netter Süßmädchenfolk mit den beiden Söderberg-Schwestern von First Aid Kit.
www.myspace.com/thisisfirstaidkit
Die Abordnung vom norwegischen Label Rune Grammofon bestritt diesmal Huntsville. Experimenteller Jazz mit elektronischen Elementen, gelegentlich die Schwelle zum Ambient überschreitend. Momente des Innehaltens, bevor es an die Hauptbühne ging.
Klassischer Fall von Wiedervereinigung aufgrund monetärer Zwänge. Wobei man einem Mike Patton, das, als einem der Wenigen, nicht vorwerfen mag, da wohl sicher einiges in sein Label Ipecac und damit in phänomenale und revolutionäre Projekte fließen dürfte (s. Zu am Sonntag).
Eröffnet wurde die Best Of Gala mit Krücke und dem Song „Reunited“, einer Soulschnulze im Original von Peaches & Herb (YouTube). Die Gehhilfe flog dann irgendwann weg und die ergrauten Herren ließen es ordentlich Krachen. Kein Hit blieb ungespielt und wer die Legende nicht in den Neunzigern gesehen hatte konnte nun ein Häkchen auf der ewigen „To See“-Liste machen.
Alte Bekannte trifft man jährlich wieder. Vor ein paar Jahren meinte Jeff Tweedy von Wilco, so etwas passiert bei ihnen auf dem Land ständig. Hätte er auch schon gesehen. Und Matt Berninger, der The National Sänger, beklagte sich, dass es ihm bei diesem Anblick schwer fiele ernste Songs zu intonieren.
Standing (and dancing) Ovations
Metal ohne Kaspereien bei Down, Phil Anselmos Panthera Erben mitErgänzung durch Mitglieder von Corrosion Of Conformity, EyeHateGod und Crowbar.
Trockenünungen mit Skiern
Nach seinem Auftritt mit Grinderman im letzten Jahr an selber Stelle, Nick Cave nun erstmals mit The Bad Seeds auf der Hauptbühne. Immer ein Ereigniss.
www.nickcaveandthebadseeds.com
Da die letzten Alben von The Mars Volta für meinen Geschmack doch stark Richtung experimentelle Unhörbarkeit abdrifteten war ich skeptisch. Doch live besinnt sich die Band alter Tugenden und tendiert wieder mehr gen Led Zeppelin denn Gniedelprog.
Nochmals Thema To See-List: Grace Jones, Ikone der 70er und 80er. Nach Jahren der Bühnenabstinez immer noch Avantgarde. Große Gesten, massenweise Designer-Outfits, perfekte Inszenierung.
Kommen optisch zwar unscheinbar daher, was einem aber nicht davon abhalten sollte The Soft Pack (ehem. The Muslims) als vielversprechenden Newcomer im Auge zu behalten. Album ist angekündigt.
Samstag: Heimspiel für Balstyrko. Eigentlich ein Trio, in Roskilde aber mit breitem Bandunterbau. Musikalisch zwischen allen Stühlen. Düstere Balladen, irgendwo in der Nähe von Tom Waits, groovy Moritaten, Rummelplatzstomper, hier ein verschleppter Ska-, da ein Dubbeat, dort Balkanreferenzen. Sowas kommt also heraus treffen sich ein Hiphop-Produzent (Malk De Koijn), die Sängerin eines Girlpartyduos (Ane Trolle von JaConfetti und noch ein Dancehallsänger als gesanglicher Gegenpart, gemeint ist Blaes BukkI vom dänischen Biksok Røksystem.
Herr Hauschka aus deutschen Landen und mit seiner minimalistischen Klaviermusik nicht nur bei seinem Label Fat Cat ein Exot gab sich große Mühe, als merkwürdiger Sonderling rüberzukommen. Aufstellung mit dem Rücken zum Publikum..? Dabei schien er bei seinen Zwischenansagen durchaus mitteilsam und um Kontakt zum Hörer bemüht zu sein. Die zweite Hälfte des Konzerts erfolgte dann mit Unterstützung eines extra engagierten Kammermusikquartetts, sodass man auch etwas zu sehen bekam. Trotzdem sehr schöne Musik. Ein Ausklinken aus dem Alltag und überholter Hörgewohnheiten.
Dennoch sollte jemand ihm mal erklären, was der Unterschied zwischen dem Zahnzwischenraum und einer Zahnlücke ist. Dentisten voran.
Mit körperlichem Einsatz, schmissigen Stücken und einer Menge Energie kämpfen die kanadischen Cancer Bats gegen das Aussterben von Punkrock und greifen dafür auch gern bei Metal und Harcore in die Requsitenkiste.
Auch die Waltons haben bei den Fledermäusen ihren Spass.
Verschwurbelt, versponnene Songs, bei denen man sich ernsthaft über die ideengebenden Substanzen von Oh No Ono so seine Gedanken macht. Auf Dauer leider redundant und ermüdend.
Kein „How are you?“ oder sonst üblich platte Publikumsanmache. Nein. „Is there someone with beerbelly?“ lautete die Frage von Guy Garvey, dem Elbow Frontmann.
Bei den Ankündigungen der Programmänderung aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls von Lil Wayne waren die Ansager anfangs verblüfft, dass keine Seufzer, ob des kulturellen Verlusts, erklangen. Hingegen wurde die Ankündigung, dass Gogol Bordello den Platz auf der Hauptbühne füllen, stets bejubelt.
Micachu & The Shapes, der neue Hype im Praxistest. Verspult, vertrackt und noch nicht die rechte Routine mit streikenden neuen Keyboars. Da kam das Trio leicht aus dem Konzept. Trotzdem interessant.
Klarer Fall von Fehlbelegung. Die Arena mit dem theoretischen Fassungsvermögen von 17.000 Zuschauern quoll aus allen Nähten und das komplette Umfeld war mit tanzenden und mitgrölenden Menschenmassen verstopft. Auch wenn Frau Allen die Setlist nicht ganz im Kopf hatte und von ihrer Band diesbezüglich korrigiert werden mußte führte Sie vor, wie Breitwandpop heutzutage funktioniert. Nächstes Mal also bitte Orange Stage.
Ja, die Indiekids. Sind sie nicht süß? Das sie große Nirvana-Fans sind hört man zwar ihrem The Shins-Lookalike-Pop nicht unbedingt an. Auch mit der Rebellion ist das so eine Sache. Aber sicher muss ich da nochmal genau Hinhören. Bis dahin tun sie bestimmt auch keinem weh.
www.thepainsofbeingpureatheart.com
Psychedelisches Muckergeniedel in der Endlosschleife. Dungen waren schon mal besser.
Elegant souveräner Artpop. Die Pet Shop Boys zeigten die perfekte Inszenierung einer Revue alter Schule.
Sonntag: Bei all den Schlagzeilen um die Person, den Junkie Peter Doherty hatte ich mir von dem Konzert nicht viel versprochen. Den kann man ja mal Mitnehmen, war die Devise. Er kam allein, keine Band nur mit der Wanderklampfe. Wieder Erwarten zeigte er sich relativ aufgeräumt, klar und als charmater Plauderer, als Entertainer, der mit seinen Liedern jede Fußgängerzone, jeden Pub erobern und jedes Mädchenherz erweichen kann. Irgendwie hat er es nach Dänemark und auf die Bühne geschafft. Das Gepäck ging zwar verloren, aber da das Shirt vom Manager einigermaßen passte konnte es losgehen. Von derartigen Informationen gerührt warf das Publikum fortan ständig Kram und Klamotten auf die Bühne. Nachdem schon eine Studenterhue (dänische Abiturientenmütze) den Weg auf die Bühne und den Kopf des Künstlers fand, hatte Herr Doherty die Einheimischen auf seiner Seite als ihm ein trockenes „Tak“ (dän. Danke) entfleuchte für einen zugeworfen BH. Dann war da noch noch was mit Neil Young. Ihn zu covern ist ja eigentlich Majestätsbeleidigung und nur selten sind Fremdversionen etwas anderes als grauenhaft. Doch auch aufgrund der sich aufdrängenden Konotation geriet „The Needle And The Damage Done“ zum Gänsehautmoment. Wohingegen der Michael Jackson Tribut elegant verkackt wurde. Dabei war die abgebrochene „Billie Jean“-Variante noch zehnmal besser als das, womit Coldplay uns später am Abend foltern würden.
www.myspace.com/gracewastelands
Nach dem Konzert beim Scialising mit Fans auf dem Gelände.
Neurosis mussten leider im Hellen antreten. Dadurch wurden die Visuals zwar nahezu unsichtbar, aber relevant ist ja letztendlich die Musik, von der man sich, wie von einer mächtigen Woge umtosen lassen konnte. Hell oder dunkel – hin oder her. Immer grandios, immer packend!
Hanggai ist eine Gruppe von Chinesen mit mongolischen Wurzeln und ihr Ziel die Bewahrung ihrer traditionellen überlieferten Musik, bevor auch diese von Fortschritt und Globalisierung hinweggefegt wird. Frontmann Ilchi (auch gelegentlich als Yiliqi lautsprachlich übertragen) war zuvor Gründer und Sänger bei der mittlerweile aufgelösten chinesischen Punkband T9 (bekannt aus der Doku Beijing Bubbles).
Um bei Coldplay direkt vor der Bühne stehen zu können stellen sich nicht wenige schon drei Stunden vorher in eine Schlange.
Derweil tobt die Begeisterung vor der Hauptbühne bei den wiedervereinigten Madness.
Ja, genau. Die Liste…
Wie Karen O bei allem Rumgehüpfe und -gedrehe, sich noch an ihre Texte erinnern auch noch atmen kann ist mir zwar nicht ganz klar, dennoch sind die Yeah Yeah Yeahs zurecht (auch deswegen) eine der Bands der Stunde.
Nicht das Zu aus Italien irgendwie durchstarten könnten. Dafür ist der Ansatz zu abgefahren. Bass, Schlagzeug, Saxophon. Metal mit Mitteln des Jazz oder umgedreht. Live ist das extrem beeindruckend, mitreißend und die Leistung von Luca T Mai, dem Saxophonisten, geradezu übermenschlich. Das so etwas auf dem Mike Patton Label Ipecac Recordings landet ist nur folgerichtig. Wo sonst?
Coldplay als letzte Messe auf der Hauptbühne, nachdem auf allen anderen Bühnen schon die Lichter ausgingen. Schluchz. Vorbei. Als allerletzter Ausklang noch eine Dubparty in der Arena, dann wars das für dieses Jahr.
Dancing in the streets. Ein letztes Aufbäumen bevor der Alltag wieder übermimmt. 361 Tage. Dann sind wir wieder hier.
– 1.-4.7. 2010, selbe Stelle
Zum Nachlesen hier das komplette Programm und der Bandindex .
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