Hippiespecial bei Radio Blau
Text: Redaktion | Ressort: Radio | 26. März 2010Das Hippiespecial
27. März 2010, 21 – 23.00 Uhr
Die Batik-Hemden über unseren Herzen
Hippie-Attitudes in der Jetztzeit
Das Wort ist längst geflügelt, dieses Wort vom: „Da wachsen einem ja Sandalen!“ Geprägt von Freund Roland hat es sich tief eingefressen in den Jensor’schen Sprachgebrauch – auf dass es regelmäßig gebraucht werde, wenn mir etwas über den Weg läuft, was sich irgendwie nach, hmm, ja, schnüffel, schmeck, naja, nach Hippie-Attitude anfühlt. Und herrje, diesen Geschmack hatte ich ja in letzter Zeit desöfteren auf der Zunge respektive im Ohr.
Ja, rückblickend war es wohl die letztjährige Veröffentlichung „Wavering Radiant“ von Isis, die das persönliche Aha-Erlebnis mit sich brachte. Dieses Aha-Erlebnis von den Hippie-Attitudes, die sich im aktuellen Kontext tummeln und zwar an Stellen, an denen man sie so ganz und gar nicht vermutet hätte auf den ersten Blick. Das machte Spaß und weckte Lust, noch ein wenig mehr zu investieren in die Deutung und Auslegung von Zeichen, Codes, Attitudes.
Nun ist ja der Begriff „Hippie“ erstmal nicht sonderlich positiv besetzt, wenn man eine musikalische Sozialisation hinter sich hat, bei der sich eine (zugegebenermaßen anständig schlängelnde) Linie ziehen lässt von Heavy Metal (mit dem Pop-Sündenfall Depeche Mode) in Richtung NY-Noise (Sonic Youth! Sonic Youth! Und nochmals Sonic Youth!), Post Punk (Hüsker Dü! Hüsker Dü! Und nochmals Hüsker Dü!) und Gothic-Rock (The Sisters Of Mercy! Bauhaus! Und manchmal auch The Fields Of The Nephilim!) hin zu Techno und HipHop ziehen lässt. Obwohl, naja, in den Dorf-Diskosälen des südthüringischen Outbacks gab es ja schon einen stilübergreifenden Konsens zwischen Metalheads und Lodenbluesern (mithin die in den Frühachtzigern präsente Hippie-Ausformung), was unterm Strich mit sich brachte, dass ich meinen Schlag Bob Dylan-Neil Young-Janis Joplin-CCR-usw usf-Erbsensuppe anständig gelöffelt habe (im erwähnten südthüringischen Outback hatten nur die Allerallerallerwenigsten auch nur die Namen The Grateful Dead oder The Incredible String Band mal gehört; von der Musik mal ganz zu schweigen). So viel zum gern postulierten, ähem, antagonistischen Widerspruch (schönes Adjektiv aus dem Marxismus-Leninismus, auf das ich jetzt im Zusammenhang mit dem ARD-Scientology-Film „Bis nichts mehr bleibt“ wieder gestoßen bin) zwischen Hippies und dem ganzen Rest.
„Punk musste sich wahrscheinlich anfangs nur deshalb so vehement als Style von den Hippies abgrenzen, weil sich beide im Innersten viel zu ähnlich waren“, formulierte es Martin Büsser in seinem (durchaus streitbaren) Intro-Beitrag aus dem Jahre 2008 (guckst du http://www.intro.de/kuenstler/interviews/23051355?current_page=1). Kann man so sehen. Man kann aber auch sagen: Die entsprechenden Attitudes definieren ein, ähem, popkulturelles Role Model, das bis zum heutigen Tage nur wenig an Attraktivität, Relevanz und Bedeutung (von so etwas wie Aktualität mag ich angesichts der allumfassenden Gleichzeitigkeit von Styles eigentlich nicht mehr reden – dazu aber an anderer Stelle mehr). Vor allem, da dies weniger wie ein fest geschlossenes, quasi hermetisches Weltbild funktioniert, sondern eher in der grundlegend sympathischen Form eines Gemischtwarenladens, aus dem man sich nach Herzenslust bedienen kann (nein, ich kann mit Dogmatismus so gar nichts anfangen und das Ende der Welt wegen grassierender „Beliebigkeit“ von Anschauungen und Weltsichten fürchte ich nicht). Was dann erst recht zu interessanten Ergebnissen führt, wenn man mal über das Offensichtliche, das Augen- beziehungsweise Ohrenfällige hinausgeht.
Natürlich ist es kaum ein Problem, den Hippie in den Fleet Foxes zu erkennen (auch wenn die sich offenkundig mit Händen und Füßen dagegen wehren – siehe obiger Link – und dabei in der guten Gesellschaft von Leuten wie Yeasayers Chris Keating sind, die auch alles auf dieser Welt sein wollen, nur verdammt noch eins keine Hippies!). Und so ‘ne Sachen wie MGMT – geschenkt! Auch wenn hier die Electro-Hippie-Schiene auf der einen und der Krautrock-Hippie-Style auf der anderen Seite schon wieder mit einem außergewöhnlichen Beigeschmack verwöhnen. Wie halten wir es aber mit den Drone-Doomern dieser Erde, die ordentlich verankert sind im Matsch des Psychedelischen? Mal ganz abgesehen von den Old School-Doom-Rockern (der geht raus an my man Scott „Wino“ Weinrich), die für sich eine Outlaw-Ich bin draußen aus dieser Gesellschaft-Haltung kultiviert haben, deren Woodstock-Wurzeln sehr wohl verfolgbar sind. Der Vorteil: Der Begriff „Hippie“ ist in seiner Definierung dergestalt schwammig, auslegbar, raumgreifend, dass sich so unfassbar viel darunter verorten lässt – wie wäre es mit einer Einlassung betreffs der Back To Nature-Kommune, die auf den Namen Wolves In The Throne Room hört und dem Black Metal frönt? Das mit dem Psychedelischen hatten wir ja schon und so weit muss da die Brücke auch nicht geschlagen werden zu Leuten wie Spacemen 3 und Spiritualized (womit wir beim Shoegazing wären). Und formulierte der gute alte Krautrock mit seiner unnachahmlichen Rausgeknalltheit aus jeglichem realitätsbezogenen Raum-Zeit-Gefühl nicht auch einen höchst eigenständigen Hippie-Style, der in seiner Radikalität sogar die Punks beeindruckte (nachlesbar in Jürgen Teipels „Verschwende deine Jugend“) und selbstredend bis auf den heutigen Tag hochdosiert nachwirkt? By the way, da fällt mir ein: Faust werden noch in diesem Monat mit „Faust Is Last“ via Klangbad eine neue Doppel-CD an den Start bringen.
Wenn wir schon mal draußen sind aus dem Raum-Zeit-Kontinuum, könnte man auch gleich mal beim Space-Rock anklopfen. Oder bei hochgetunten Fricklern und Wahnwitzigen der Machart Elektrohasch Schallplatten (Respekt für den Drei-CD-Schinken „Summer Sessions Vol. 1–3“ der dänischen Psychedelic-Hippies Causa Sui – wem da keine Sandalen wachsen, dem ist wirklich beim allerbesten Willen nicht mehr zu helfen) oder – leicht andere Baustelle, ähnliche Konsequenz im Handeln – die „Freedom To Chaos“-Posse von Discorporate Records, die so ganz nebenbei auch noch den Beweis liefern, dass sich Zappel-Noise und Hippie-Attitude eben auch nicht aus dem Weg gehen müssen (oder aktuell via Dead Western eine ausgesprochen buchstäblich zu nehmende Variante von Vollmundigkeit im Akustik-Folk-Kontext servieren). Da haben wir von den Drogen noch gar nicht gesprochen – und dem Link in Richtung Techno/elektronischer Musik, der sich da aufmachen lässt (hey, wir sind hier nicht im Bundesfamilienministerium). Aber eben nicht nur – die Begriffe Love & Respect, gewissermaßen das Prinzip „allumfassendes Kuscheln“ finden sich eben nicht nur aktuell Events von Nachtdigital bis SonneMondSterne und Nature One, das kannte man irgendwie schon zu Woodstock-Zeiten, auch wenn da der Sound irgendwie ein anderer war. Dieses Ding „Lost In Music“, das Abkoppeln und Versinken funktioniert(e) aber hier wie da – auch so eine Sache, die sich mit den Jahrzehnten nicht abgenutzt hat.
Musik als Alternativ-Entwurf, der als grundlegende Lebenseinstellung über das simple „Am Samstagabend Spaß haben“-Ding hinausreicht und damit eine politische Dimension erreicht. Diese ganze Geschichte der Popkultur-befeuerten Ent- und Eigensozialisierung, die aufgeht in einer bewußten Wahl der höchst individuellen Sichtweisen, die sich außerhalb eines gesellschaftlichen Mainstreams stellen. So ganz klar ist es nicht, ob sich dieses Prinzip tatsächlich untrennbar mit dem „Hippie“-Ding verbinden lässt – und wieviel daran einfach nur ein gern wiederholter Mythos ist. Vielleicht waren es viel eher die Garagenrocker aus den Sixties (ich empfehle die Back From The Grave-Reihe) oder gar die Fifties-R’nB-Acts, die dieses Privileg für sich in Anspruch nehmen können (von all dem ganzen Stoff, der früher kam und dies nicht nur ein paar Jahre, will ich mal gar nicht erst anfangen, weil ich da vielleicht doch erst noch einmal „The Rest Is Noise“ von Alex Ross lesen sollte, was zumindest schon fest auf der To-Do-Liste steht). Aber irgendwann wird aus einem Mythos ja auch einmal etwas, das für bare Münze genommen wird. Dieses klassische Ding des Sich-Verselbstständigens, das sich in der Tat vorzüglich an diesem Beispiel Hippie-Attitude beobachten lässt. Und das damit eine zauberhafte Spielwiese eröffnet, auf der wir allesamt vergnügliches Musik-Raten veranstaltet haben – wofür sich so eine zweistündige Radiosendung ja schließlich vortrefflich eignet.
Playlist – Special „Hippie-Attitudes in der Jetztzeit“
mit den Herren Jensor, Nauber & Lose
1. Motorpsycho – The Bomb-Proof Roll And Beyond (For Annie Hassle)
von „Heavy Metal Fruit“ (Stickman) – Herr Jensor
2. Edward Sharphe And The Magnetic Zeroes – Home
von „Up From Below“ (Community Rec.) – Herr Nauber
3. Yeasayer – Wait For The Summer
von „All Hour Cymbals“ (We Are Free) – Herr Lose
4. OM – Meditation Is The Practice Of Death
von „God Is Good“ (Drag City) – Herr Jensor
5. The Figurines – Drunkard’s Dream
von „When The Deer Wore Blue“ (Morningside Records) – Herr Nauber
6. Midlake – Head Home
von „The Trials Of Van Occupanther“ (Bella Union) – Herr Lose
7. Retribution Gospel Choir – 68 Comeback/Workin’ Hard
von „2“ (Sub Pop) – Herr Jensor
8. Hope Sandoval & The Warm Inventions – Wild Roses
von „Through The Devil Softly“ (Nettwerk) – Herr Nauber
9. The Polyphonic Spree – Running Away
von „The Fragile Army“ (Essential) – Herr Lose
10. Dominik Eulberg – Der Tanz der blau-grünen Mosaikjungfer
von „Flora & Fauna“ (Traum Schallplatten) – Herr Jensor
11. Chrome Hoof – Circus 9000
von „Pre-Emptive False Rapture“ (Southern Records) – Herr Nauber
12. Animal Collective – Grass
von „Feels“ (Fat Cat Records) – Herr Lose
13. Osis Krull – Attique Chrome
von „The Candy And Springtime Experience“ (Discorporate Records) – Herr Jensor
14. MGMT – Pieces Of What
von „Oracular Spectacular“ (Columbia) – Herr Nauber
15. Gustav – Verlass die Stadt
von „Verlass die Stadt“ (Chicks On Speed Records) – Herr Lose
16. Causa Sui – Rip Tide
von „Summer Sessions – Vol. 1-3“ (Elektrohasch Schallplatten) – Herr Jensor
17. Joker’s Daughter – Go Walking
von „The Last Laugh“ (Double Six Records) – Herr Nauber
Generell: PNG ist jeden zweiten Freitag von 21.00 bis 23.00 Uhr auf Sendung. Im Wechsel finden entweder Das Phonographische Quartett, bei dem vier Redakteure vier aktuelle Veröffentlichungen vorstellen, oder Spezialsendungen zu unterschiedlichen Themen (Labels, Festivals usw.) statt.
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