Die Melvins und ich – 20 Jahre Besessenheit
Text: Jensor | Ressort: Allgemein, Musik, Veranstaltungen | 5. September 2011Es gibt sie irgendwie tatsächlich noch: Bands, um die herum sich eine Aura des Legendären von einem derartigen Ausmaß formt, dass sich Menschen mit ausgewachsener Leidenschaft in ernsthafte Arbeit stürzen, um eben diese Bands auf die ein oder andere Weise ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Selten geht es dabei um Bands, die sich in selbigen permanent sonnen, eher die versteckten Verrückten, die haltlosen Grenzgänger und die ausdauernden Erwartungshaltungszermalmer. Leute wie die Melvins beispielsweise, die sich im Oktober endlich mal wieder hierzulande blicken lassen.
Gut, es wird immer wieder und allen Ecken und Enden behauptet, dass diese Band etwas ganz Besonderes sei. Wird ja auch via Wikipedia festgehalten, dieses Ding mit der „eigenen kleinen Nische der Rockmusik“, in der sich King Buzzo und Dale Crover mit wechselnden Bassisten rumtreiben würden. Naja, wenn‘s da schon steht. Oder wahlweise auch gedroppt wird vom Musikjournalismus der herkömmlichen Sorte nach dem Motto „Höhöhö, Melvins sind Kult, wa! Die Haare! Und die haben ja Grunge erfunden! Und King Buzzo! Und so durchgeknallt! Höhöhö.“ Sorry, dies musste jetzt mal raus. Wobei ich dies alles ja garnicht schlecht finden mag – was den Melvins dient, kann nur gut sein. Finde ich. Aber wovon ich wirklich rede, ist die Tatsache, dass es sich auch 24 Jahre nach „Gluey Porch Treatments“ (oder 25 nach „Six Songs“, wenn wir es denn mal ganz genau nehmen wollen) voll und ganz lohnt, sich mit dieser Band zu beschäftigen. Und zwar nicht lohnt im Sinne von „Da nehme ich aus nostalgischen Erwägungen die neue Melvins halt mal mit“, sondern weil man nie so genau weiß, was einen da nun eigentlich erwartet. Der völlige haltlose Wahnsinn, der zwischen Geräuschfetischismus der ausgeprägten Art und ebenso ausufernden wie bruchstückhaften Rock-Skizzierungen schwankt wie ein Fischkutter bei Windstärke 12? Oder vielleicht doch eher jene Inkarnation, die die Heavy Metal-Bratzigkeit auf ein unfassbares Level von Progismus transformiert, dass einem die Augen tränen (siehe „The Bride Screamed Murder“ aus dem vergangenen Jahr)? Dann wären da ja auch noch die legendären Meta-Mainstream-Melvins aus „Houdini“-Tagen im Angebot – inklusive jener Melvins, die 2005 die ganze Chose live nachgespielt haben und im Jahr darauf als „Houdini Live“ unters Volk brachten. Wobei man bei dieser Gelegenheit vielleicht auch mal erwähnen muss, dass dieses Ding, was man jeder anderen Band als sinnlose Beutelschneiderei vorgehalten hätte, hier unfassbarer Weise wirklich SINN ergibt. Nur eine der zahllosen Mysterien, die sich um diese Band entwickeln.
Kurzum: ich rede von Besessenheiten. Von Obsessionen, die dergestalt nachhaltig wirken, dass man auch nach 20 Jahren an Melvins-Platten nicht oder nur ganz schwer vorbeigehen kann. Davon, dass mich die Melvins wie eigentlich keine zweite Band durch eben diese 20 Jahre begleitet haben. Herrje, ich muss wirklich mal darüber nachdenken, wieso weshalb und warum ich eigentlich auf diese Band gestoßen bin? Weil sie damals, 1990 schon Kult war? In den Kreisen, in denen ich mich damals so bewegte? Weil sie als Giganten des Verschleppens galten, als wahnwitzige Apologeten des ganz, ganz, ganz, ganz fetten Riffs, an denen ich irgendwie schon immer ein gewaltiges Interesse hatte (Nachwehen der Heavy Metal-Sozialisation möglicherweise)? Oder war es dieses ziemlich legendäre Foto von diesen drei Taugenichtsen und Schreihälsen, die da vorm Zaun rumstehen mit Shirley Temples Tochter Lori Black in der Mitte und der Katze, die da am Schwanz hochgehoben wurde? Naja, irgendwie gab‘s für mich keinen Weg vorbei an dieser Band, an diesem Konglomerat aus „Ozma“ und „Gluey Porch Treatments“, das mir dann auch via Mailorder (das war damals noch so) ins Haus gebracht wurde. Und als ich mir diese schlanken 33 Songs reingezogen hatte, wußte ich Bescheid: Das musste im Auge behalten. Weil all diese Vorab-Klischees stimmten und dann doch wieder nicht. Weil das nicht nur die List am Verschleppen war, sondern die pure Lust am Krachschlagen, am Rockmusik-Zerfleddern (bei allem Respekt natürlich), an Dekonstruktion (auch wenn ich damals diesen Begriff nicht nutzte) und vor allem an Musik.
Es sollte sich ergeben, dass dieses „Im Auge behalten“ zur erwähnt lohnenswerten Angelegenheit wurde. Aus bereits oben erwähnten Vielseitigkeitsgründen. Und weil sich die Melvins immer einen ziemlichen Dreck um Erwartungshaltungen geschert haben – selbst in ihrer „Mainstream-Phase“, dieser Zeit bei Atlantic mit „Houdini“, „Stoner Witch“ und „Stag“, die im Nachgang irgendwie immer noch als gigantisches Musik-Missverständnis angesehen werden darf. Eben wegen diesem Sich-Einen-Dreck-Scheren, dass uns hier eben auch drei Veröffentlichungen beschert hat, deren Eine-Spur-Neben-Der-Normalität-Der-Alternative-Nation-Rockmusik bis zum heutigen Tage nix an Subversivität und yeah, Frische verloren hat. Ruhig mal ausprobieren. Und da reden wir noch gar nicht von all diesen Auslotungen am Rande des Hörbaren, von „Colossus Of Destiny“, diesem beinahe einstündigen Live-Monstrum, das im Wesentlichen aus Rauschen, Brummen und sonstigen Geräuschen besteht, an dem man aber wirklich eine Lust entwickeln kann (ich weiß, wovon ich rede, ich habe diese Platte etliche Male angehört). Oder von der unbedingt empfehlenswerten Doppel-CD „Singles 1-12“, auf der alle Singles zusammengefasst sind, die von den Melvins 1996 im Monatsrhythmus unter die Leute gebracht wurden – und auf der allerhand Unfassbares zu finden ist, angefangen von diversen Coverversionen bis hin zu wahrhaft Melvinesken Fingerübungen am eigenen Material. Oder von jenen drei EPs aus dem Jahre 1992, mit denen King Buzzo, Dale Crover und der damalige Bassist Joe Preston (ja, die Sache mit den Bassisten ist auch so ein Melvins-Ding), die Kiss derart verhohnepipelnd Respekt zollen oder wahlweise respektvoll verhohnepipeln, das einem ganz schwummrig wird vor Entscheidungsoptionen – mitlachen oder mitrespektieren? Naja, immerhin habe ich mich in meiner Metal-Sozialisation angenehm verstanden gefühlt – vielleicht auch so ein Grund, warum ich und die Melvins so dicke sind.
Hakenschlagen als Überlebenskonzept: Davon wird mir noch viel zu wenig geredet. Wer sich erst mal in diese „eigene Nische in der Rockmusik“ reinmusiziert hat, kann ganz ungeniert leben. Und Dinge machen, deren Logik erst mal nicht auf der Hand liegt (ganz abgesehen von kommerzieller Logik, die in diesem Kontext eh nie eine Rolle gespielt hat): Mit Jello Biafra den Speedpunk markieren zum Beispiel. Oder mit dem Herren Brian Williams aka Lustmord einen formidablen Clash aus Wumms und Fieps inszenieren, der sich aus wohliger Freude am Nervenendenaufreiben speist. Oder mit einem Dreifach-CD-Konzept, das allen Maden, Schleimern und Heulsusen ein musikalisches Denkmal setzt („The Maggot“, „The Bootlicker“ und „The Crybaby“ von 1999/2000). Oder für ein Remix-Album ausgewiesene Lärm-Terroristen der Bauart Merzbow oder Panacea neben Feingeister wie Matmos zu platzieren. Oder eine Fantômas Melvins Big Band ins Leben zu rufen. Oder das eigentlich aus meiner Sicht weitgehend vollkommen überflüssige Genre des Live-Albums tatsächlich mal mit Sinn, Verstand und Leben füllen – ich hatte die „Houdini“-Live-Nachbetrachtung bereits erwähnt, ebenso wie „Colossus Of Destiny“, aber verweise an dieser Stelle auch gerne auf den Melvins-Beitrag zur „Your Choice Live Series“ oder auf die just in diesem Jahr erschienene „Sugar Daddy Live“. Wobei letztere schon allein aus dem Grund empfehlenswert ist, weil man da mal fein erkennen kann, wie perfekt sich King Buzzo und Dale Crover mit der neu gewonnenen Big Business-Unterstützung von Jared Warren und Coady Willis verstehen – und welche Möglichkeiten dies für Live-Situationen eröffnet (zwischen Malmen, Rocken und Noisen). Mal ganz abgesehen davon, dass man einen Evergreen wie „Boris“ immer wieder gerne hört, sich an dessen Unverbrauchtheit erfreut und bei der Gelegenheit daran erinnert, dass man diesem Song zumindest ein bißchen eine fantastische Band verdankt (ja, eben die japanischen Boris).
Ja, ich habe all diese Platten im Schrank zu stehen. Ja, das kann man Besessenheit nennen. Eine Besessenheit, die mir immer Spaß gemacht hat. Weil die Band selbst immer Spaß hatte. Und es scheint nicht nur mir so zu gehen – um mal wieder zum Ausgangspunkt zurück zu gehen. Deshalb gibt es auch da draußen Leute, die einfach nur den Jugendtraum haben, mal ein Konzert mit den Melvins zu organisieren. Und die dies einfach tun wie Florian Bräunlich, Grinni Stangner und Christian Kühr von Eine Welt aus Hack bzw. Love & Fist, der sie am 14. Oktober in Erfurt auf die Bühne stellen wird. Was wir hier ausdrücklich gutheißen und unterstützen. Ach was, verstehen sogar! Und wer nicht nach Erfurt kommen kann, sollte sich eines der anderen Konzerte reinziehen.
PS: Anbei hänge ich gleich noch mal die Playlist des jüngsten Melvins-Appetit-Mach-Specials auf Radio Blau mit an.
1. Melvins – Revolve (von „Stoner Witch“/ Atlantic)
2. Melvins – At A Crawl (von „26 Songs“/ Ipecac; Original von „Six Songs“/ C/Z Rec.)
3. Flipper – Way Of The World (von „Album Generic Flipper“/ Subterranean Rec.)
4. Captain Beefheart – Ashtray Heart (von „Doc At The Radar Station“/ Virgin)
5. Black Sabbath – Iron Man (von „Paranoid“/ Vertigo)
6. Melvins – Vile (von „Ozma“/ Boner Rec.)
7. Melvins – Love Thing (von „Ozma“/ Boner Rec.)
8. Mudhoney – Touch Me I’m Sick (von „Touch Me I’m Sick“/ Sub Pop)
9. Nirvana – Aero Zeppelin (von „Incesticide“/ Geffen)
10. Melvins/Joe Preston – Bricklebrit (von „Joe Preston“/ Boner Rec.)
11. Melvins – Going Blind (von „A Live History Of Gluttony And Lust – Houdini Live 2005″/ Ipecac)
12. Melvins – Harry Lauders Walking Stick Tree (von „Honky“/ Amphetamine Reptile)
13. Mr. Bungle – Quote Unquote (von „Mr. Bungle“/ London Rec.)
14. Melvins With Leif Garrett – Smells Like Teen Spirit (von „The Crybaby“/ Ipecac)
15. The Fantomas Melvins Big Band – Terpulative Guns Drugs (von Millenium Monsterwork 2000″/ Ipecac)
16. Venomous Concept – Idiot Parade (von „Retroactive Abortion“/ Ipecac)
17. Jello Biafra With The Melvins – The Lighter Side Of Global Terrorism (von „Never Breathe What You Can’t See“/ Ipecac)
18. Melvins + Lustmord – Toadi Acceleratio (von „Pigs Of The Roman Empire“/ Ipecac)
19. Boris – Akuma No Uta (von „Akuma No Uta“/ Southern Lord)
20. Big Business – Guns (von „Quadruple Single“/ Gold Metal Rec.)
21. Melvins – Suicide In Progress (von „Nude With Boots“/ Ipecac)
22. Melvins – Civilized Worm (von „Sugar Daddy Live“/ Ipecac)
Die Tourtermine
9. Oktober, München, Feierwerk
14. Oktober, Erfurt, Stadtgarten (+ MoHa!)
16. Oktober, Berlin, Volksbühne
25. Oktober, Bremen, Lagerhaus
28. Oktober, Schorndorf, Manufaktur
29. Oktober, Köln, Gebäude 9