Das immerwährende Gleichbleiben der Welt wie wir sie kannten oder We’re out looking for astronauts
Text: Manuel | Ressort: Literatur, Musik | 29. November 2012Simon Reynolds hat mit seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch Retromania die ungesunde Vergangenheitsfixierung des Pop treffend auf den Punkt gebracht und ruft uns damit die latente Visionslosigkeit wieder in Erinnerung, die dieser Tage allenthalben um sich zu greifen scheint. Warum eigentlich? C’mon people, this isn’t the end of the world, right?
Man muss sich die Sache mit Simon Reynolds vielleicht so vorstellen: Da gerät einer, der seine Leidenschaft dem Pop verschrieben hat, ein Kritiker, ein Sammler, ein Fan, am Ende des vergangenen Jahrzehnts ins Grübeln: Er, der Post-Punk-Liebhaber, der Raver, der fest an die teleologische Bestimmung des Pop glaubt, nicht nur die Gegenwart zu fassen, sondern auch die Zukunft zu antizipieren, bemerkt plötzlich, dass die Geschichte der Popmusik nach nahezu vierzig Jahren kontinuierlicher künstlerischer Metamorphosen, Transformationen und Veränderungen mit der Jahrtausendwende an einem Endpunkt angelangt zu sein scheint. Die Platte springt. Die Nadel setzt immer wieder an der gleichen Stelle auf. Total Recall.
Wir leben in einer Zeit, so Reynolds, in welcher Popmusik völlig verrückt nach ihrer eigenen Vergangenheit zu sein scheint, und zwar gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen in Bezug auf die Fetischisierung der goldenen musikalischen Zeitalter selbst, dem musealen Kuratieren, wie Reynolds es bezeichnet: Man beachte nur die Menge an aufwändig gestalteten fünfteiligen CD-Boxsets alter Helden, von denen noch die obskursten Bootlegs aus den Archiven gezerrt und veröffentlicht werden; dazu all die Tribute-Alben, die Livekonzerte, auf denen ganze Klassiker-Alben gespielt werden, die Rockdokumentationen, Rockmusicals, Re-Issues und Reenactments. Am prominentesten zu beobachten ist diese Sehnsucht nach der Vergangenheit, und all den Erinnerungen die sie evoziert und noch einmal in die Gegenwart transferieren soll, wohl am Beispiel der nicht enden wollenden Flut an Reunions ehemals bedeutender, längst tot und verwest geglaubter Bands:
So kam man in diesem Jahr tatsächlich (mehr oder minder) in den Genuss, die eigentlich sicher auf dem Pop-Olymp entschwundenen Stone Roses noch einmal auf großen Bühnen zu erleben, und sogar die Beach Boys (!) dup-duup-duuupten sich wiedervereint ins kollektive Bewusstsein zurück, aus dem sie ja ohnehin nie verschwunden waren, betrachtet man die schiere Masse an Bands, welche sie im letzten Jahrzehnt als Referenz zu nennen pflegten. Das Ergebnis solcher Reunions ist reichlich bizarr – ein temporäres Wiederauferstehen besserer Popzeiten und allem, was man damit assoziiert, bei gleichzeitigem Wissen, aus der Zeit getreten zu sein und in einem seltsamen Zwischenraum zu verharren, der weder Vergangenheit noch Gegenwart ist; einem Friedhof, der von zombiefizierten Erinnerungen heimgesucht wird, die im Falle der Stone Roses das gealterte, ledrige Antlitz Ian Browns tragen.
Simon Reynolds formuliert diese angebrochene Endzeit des Pop, die ewige Präsenz des Vergangenen im Hier und Jetzt als kontinuierlich voranschreitende Schwindsucht: So wird Pop enden, nicht mit einem Knall, sondern mit einer überteuerten Eintrittskarte für ein Pixies- oder Pavement-Konzert, auf dem ein Album eins zu eins neu inszeniert wird, das du bereits in deinem ersten Semester bis zum Gehtnichtmehr gehört hast.
Die andere, ungleich dramatischere Entwicklung in dieser Hinsicht sieht Reynolds allerdings nicht im Kuratieren alter Musik, sondern dem archäologische Forschen nach Sounds aus der Vergangenheit, um sie entweder nach Copy & Paste-Prinzip zu plagiieren oder sie immer und immer wieder mit anderen vergangenen musikalischen Trends zu durchmischen, ohne dabei etwas zu erzeugen, das innovativ klingt oder genuin neu wäre. Popmusik bewegt sich im Krebsgang, es finden nur noch seitwärts- und keine Vorwärtsbewegungen statt. Obwohl dieser Umstand dem Pop schon immer eigen war, liefern die 2000er einen Präzedenzfall: Ein Jahrzehnt ohne musikalische Identität, ohne die Entwicklung nennenswerter Stilrichtungen, stattdessen ein unübersichtliches Sammelsurium von kurzzeitig gehypten Mikrotrends, die Elemente, Codes und Eigenheiten vergangener Innovationen aufgreifen, ohne dass sie entsprechend im Jetzt verankert wären – was zu einer Entwertung derselben und zu Substanzlosigkeit führt, die jenseits hipper Fassaden nur ein gähnendes Nichts übrig lässt. Diese kontextlose Retrofixierung weist eigentlich nur einen Bezug zur Gegenwart auf, nämlich die Widerspiegelung einer Leere, die ein wesentliches Merkmal des Digitalzeitalters mit seiner permanenten Verfügbarkeit von allem und zu sein scheint.
Aber das Drama, dass Reynolds mit Retromania beschworen hat, ist ein weit größeres und zielt mitten Hinein ins Herz der typisch postmodernen recreativity-Debatte: Von deren Befürwortern, Künstlern, Theoretikern, Kritikern, wird die These vertreten, dass Aneignung und Zitat, die Kultur des Mash-Ups, Samplings und Remix, schon immer im kreativen Prozess angelegt waren. In dieser Strömung der Poptheorie hat der Einzelkünstler zugunsten eines Schwarmkollektivs abgedankt und stellt nur noch eine Art Filter dar, durch den immer da gewesene Einflüsse gebündelt und in brauchbare Form gebracht werden. Die Fähigkeit, Originäres zu schaffen, wird dem Künstler dabei per se abgesprochen. Alles ist ein Plagiat, alles ist ein Remix. Und Originalität und Innovation sind bloße Mythen, denn allem Neuen wohnt zugleich immer schon das Alte inne.
Der Künstler als Input/Output-Maschine also, die wie Google funktioniert; man gebe einen Einfluss ein, und schaue, welche Ergebnisse angezeigt werden. Ein dankbarer Ansatz, übertüncht er doch nicht nur die Angst, dem Vergangenen nichts mehr hinzufügen zu können, sondern bietet gleichzeitig auch eine Möglichkeit, die alten Helden zu entmythologisieren, denn die haben ja schließlich auch nur geklaut, immer und immer wieder. Was zunächst wie eine demokratische Verheißung erscheint, eine Überführung des burroughs’schen Cut-Up-Prinzips – nach dem jeder durch zerschneiden und neu zusammensetzen von Gedichten zum Dichter werden kann – ins Schwarmdenken des Digitalzeitalters, ist nichts anderes als ein bequemes Absegnen der tiefen Rat- und Visionslosigkeit dieser Tage.
Denn wer jede Innovation als bloßes Zitat verlacht, als Remixmashupcompilation, deren Gehalt sich nur aus dem Vorherigen speist, überführt den Akt künstlerischen Schaffens in eine Regression unendlicher Langeweile, die sich bleiern auf die Köpfe all derjenigen legt, sie eigentlich zu schaffen imstande wären. Das Propagieren des Copy’n’Paste-Prinzips ist Bestandteil jenes albernen „Ende der Geschichte“-Denkens, das lange schon aus dem gesellschaftspolitischen Bereich in die Kunst eingesickert ist und öffnet einer Antriebslosigkeit Tür- und Tor, die flugs in eine mondäne Dekadenz führt, aus der es kein Entkommen mehr gibt, weil ihr der Endzeitgedanke inhärent ist.
Nicht Transformation, nicht Permutation, nicht die evolutionäre Entwicklung hin zu etwas Neuem, basierend auf Vorstellungskraft und Willen, oder dem bloßen Knall des Zufalls, werden so als zeitgemäßes Schaffensmuster anerkannt, sondern die anmaßende, letztlich völlig reaktionäre These, das alles wichtige, revolutionäre und großartige schon von anderen Leuten in reichhaltigeren Zeiten gesagt, geschrieben, gemalt, erkenntlich gemacht worden ist, und uns nur noch die Möglichkeit einer immerwährenden Neuarrangierung bleibt. Das ist deprimierend. Es liefert uns die Legitimation, einfach weiter unentwegt auf den Friedhöfen der Vergangenheit zu buddeln, und die Zukunft dem Diktat von Geistern zu überlassen.
Oder um eine Analogie Simon Reynolds zu verwenden: Die These von der apriorischen Unmöglichkeit des Neuen lässt uns nicht nur zu Archäologen auf Ewigkeit werden, sondern nimmt uns zugleich den Glauben, Astronauten sein zu können. Es wird daher Zeit, (bleiben wir mal in Reynolds Bild), sich wenigstens um ein paar neue Konstruktionspläne für Raumschiffe zu bemühen – Oder wollen Sie ewig am Boden bleiben?
Nun, dann denken Sie wahrscheinlich auch, dass 2012 die Welt untergeht.