Gutes im Kino

Text: | Ressort: Film | 6. Oktober 2013

Gravity

Völlig schwerelos

Regisseur Alfonso Cuarón, Kameramagier Emmanuel Lubezki und eine Handvoll Schauspieler machen uns schwindelig.

Ein in allen Belangen mutiges Unterfangen hat sich der Mexikaner Alfonso Cuarón für seinen ersten Spielfilm nach dem meisterhaften „Children of Men“ vorgenommen. Er inszenierte einen Blockbuster, der so ziemlich allen Vorgaben des kommerziellen Kinos widerspricht. Wenn die Kamera zum ersten Mal um die internationale Raumstation schwebt wird dies bereits deutlich. Die atemberaubenden Aufnahmen der Erde und der überzeugend konstruierte Nachbau der Station bieten denn Hintergrund für einen minutenlangen Kameraflug, eine grandios choreographierte Eröffnung. Wir kreisen mit Matt Kowalski (George Clooney) am Jetpack um die Wissenschaftlerin Ryan Stone (Sandra Bullock) und können ihren Widerwillen für die Situation, in der sie sich befindet förmlich nachfühlen. In der Schwerelosigkeit tauscht sie einige Platinen aus, was durch die Immobilität des Raumanzugs und des unendlichen Raums unter ihr zur Zerreißprobe wird. Dann passiert die Katastrophe: Trümmerteile eines Satelliten treiben unvermittelt auf sie zu und durchbohren die Station. Ryan und Matt werden vom einzigen Halt im luftleeren Raum und dann auch voneinander getrennt.
Ein irrwitzig spannender Kampf ums Überleben beginnt. In schwindelerregendem 3D in Echtzeit gefilmt unter der Vorgabe, mit so wenig Schnitten wie möglich auszukommen. Wer sich an die grandiose Sequenz in den Häuserschluchten von „Children of Men“ erinnert, der ahnt was auf ihn zukommt. Zwar hatte Meister Lubezki hier digitaltechnische Hilfe, aber das Resultat ist schlicht atemberaubend und von einem Realismus, der im Science Fiction-Genre unerreicht ist. Sandra Bullock meistert ihre Soloperformance mit der Kraft, Präsenz und dem Überlebenswillen von Sigourney „Ripley“ Weaver. Ein in allen Belangen außergewöhnliches Erlebnis, dem man den Hang zum Pathos am Ende gern verzeiht und zu dem es nur eins zu sagen gibt, wenn die Kinnlade wieder eingerenkt ist: noch mal!
R: Alfonso Cuarón; D: Sandra Bullock, George Clooney, Ed Harris, etc.

Rush

Rivalen der Rennbahn

James Hunt vs. Niki Lauda – ein Duell wie geschaffen für die Leinwand: Ron Howard gibt Gummi.

Rennfilme sind Kassengift. Seit „Tage des Donners“ hat es kein reinrassiger Vertreter des Genres geschafft, das Publikum in die Sitze zu pressen. Dabei beweist die „Fast & Furious“-Reihe, dass die Kombination von Männern und Pferdestärken durchaus reizvoll sein kann, wenn sie temporeich inszeniert ist. Genau das gelingt Ron Howard („Apollo 13“) in „Rush“ auf beeindruckende Weise. Als Basis verfügt er allerdings auch über eines der spannendsten Duelle der Renngeschichte: der britische Hitzkopf und Playboy James Hunt und sein biederer, arroganter Kontrahent Niki Lauda steigen gleichzeitig in die Königsklasse des Rennsports auf. Abseits der Formel 1 fahren sie allerdings keine Siege ein und zerstören sich selbst. Gegenseitig retten sie sich mit Hilfe des Treibstoffs ihrer Rivalität.
Eine geradlinige Geschichte, geradlinig erzählt. Aber Peter Morgans („Die Queen“) Drehbuch räumt den beiden gleichberechtigten Hauptdarstellern viele Möglichkeiten ein, ihre Figuren zu formen. Eine Gelegenheit, die sie dankend annehmen. Chris Hemsworth gefällt als Posterboy und Daniel Brühl überrascht mit authentischer Maske und Akzent auch die US-Kritiker. Ebenso angenehm überraschend wie der Erfolg, den „Rush“ dort in der Startwoche einfahren konnte.
R: Ron Howard; D: Chris Hemsworth, Daniel Brühl, Olivia Wilde, etc.

Prince Avalanche

Männer im Wald

Paul Rudd und Emile Hirsch markieren Straßen, auf denen niemand fährt und sinnieren dabei über das Leben.

Die Geschichte ist eigentlich ein Remake und spielt in Island, aber die ruralen und seelischen Landschaften, die Hafsteinn Gunnar Sigurðsson in seinem Film von 2011 zeichnet, lassen sich hervorragend auf den texanischen Hinterwald übertragen. Dort, inmitten der Provinz, wo sich Hase und Fuchs nicht nur umgangssprachlich gute Nacht sagen, arbeiten Alvin und Lance.
Die beiden unterschiedlichen Charaktere haben eigentlich den entspanntesten Job der Welt: sie ziehen Linien auf einer kaum befahrenen Landstraße. Alvin ist versiert und nimmt seinen Job ernst, während sein Schwager Lance lediglich das Sommerloch überbrückt und die Zeit bis zum nächsten Wochenende totschlägt. Sie verbringen ihre Tage damit, über das Leben und die Frauen zu philosophieren, doch ihre unterschiedlichen Einstellungen führen bald zu Spannungen zwischen den beiden.
Kein Zweifel: so unaufgeregt und unspektakulär wie sich die Synopsis liest, ist der alles andere als herrschaftlich daherkommende „Prince Avalanche“ auch. Dass man die beiden Freaks dennoch ins Herz schließt, liegt an den wundervollen Dialogen und den nuanciert gezeichneten Figuren, denen die beiden Hauptdarsteller Leben einhauchen. Paul Rudd gibt den erwachsenen Alvin, dessen heile Welt bedrohliche Risse erfährt, und sein infantiler Sidekick Lance wird von Emile Hirsch als charmanter Idiot verkörpert. Dieses Duo, dessen Horizont gerade mal bis zur nächsten Kleinstadt reicht, sorgt für allerlei skurrile Momente und anderthalb höchst unterhaltsame Kinostunden.

R: David Gordon Green; D: Paul Rudd, Emile Hirsch, Lance LeGault etc.

Room 237

Die Büchse der Pandora

Rodney Ascher versucht Stanley Kubricks Meisterwerk „The Shining“ zu entschlüsseln und schafft dabei eine vortreffliche Studie über Obsession und Wahnsinn.

Stanley Kubricks Filme bieten eine ideale Projektionsfläche für die Interpretationen des Betrachters. Seit er sich in den Sechzigern vom System Hollywood abnabelte, wurde sein Werk zunehmend enigmatischer. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte dies mit der Adaption von Arthur C. Clarkes „2001“. „A Clockwork Orange“ verfeinerte Kubricks Art eigenwilliger Romanadaptionen. Als 1980 „The Shining“ erschien, legte sich Kubrick mit einer der größten Ikonen der damaligen Popkultur an: Stephen King hasste die Adaption des Regisseurs. Vielleicht war es aber auch einfach eitles Gebaren angesichts der Tatsache, dass Kubrick sich nicht sklavisch an die Vorlage gehalten und ein ihr ebenbürtiges, ganz eigenes Meisterwerk geschaffen hatte.
Über die Jahre hinweg hat sich der damals kontrovers diskutierte Horror zu einem Prototypen des Genres entwickelt und der Schrecken wirkt nach. Auf unzähligen Websites versuchen Filmfreaks die vermeintlichen versteckten Botschaften des Werks zu dechiffrieren, denn Kubrick war ein Perfektionist, der scheinbar nichts dem Zufall überließ. Er liebte das Spiel mit visueller Information, eine Leidenschaft, die seine Jünger schier in den Wahnsinn treibt. Der US-Dokumentarfilmer Rodney Ascher lässt die cinephilen Spinner zu Wort kommen, verzichtet auf eigene Kommentare und räumt seinen Protagonisten anderthalb Stunden Film ein, ihre Theorien dem Betrachter zu präsentieren, kongenial geschnitten und visuell im Stil der 80er gehalten.
So analysieren die fünf Sprecher Szenen Bild für Bild, ziehen externe Quellen und die Filmographie des Meisters hinzu, um ihre Thesen zu belegen. Für den einen ist „The Shining“ eine filmische Auseinandersetzung mit dem Holocaust – immerhin stehe hier eine Schreibmaschine der Marke „Adler“ im Mittelpunkt und all das Blut und die gepackten Koffer – für einen anderen ist es die Abrechnung der Indianer mit dem weißen Kolonialisten Jack Torrence. Wieder einer sieht Hinweise auf Kubricks angebliche Inszenierung der Apollo-Mondlandung, während ein anderer unterschwellige sexuelle Botschaften entdeckt.
Für den distanzierten Betrachter ist das ein großer Spaß, für Gleichgesinnte ein einziges Nerdfest. Kinobegeisterte finden hier eine Hommage an einen Ausnahmeregisseur und die Leidenschaft fürs bewegte Bild.

R: Rodney Asher

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