Im Rachen des Drachen
Text: Joerg | Ressort: Literatur | 3. November 2013„Du hast doch kein Recht gehabt. Ich setze mich durch.“
(Wolfgang Welt auf die Frage: „Was würden sie ihrem schärfsten Kritiker von damals, Diedrich Diederichsen, heute sagen?)1
„Niemand möchte Gast in einem solchen Porno sein.“ (Katja Kullmann)2
Wer hat sich nun durchgesetzt als Kritiker, das Modell Welt, oder das Modell Diederichsen. Warum und wieso überhaupt durchgesetzt? Diese Fragen sollen anhand der hier vorliegenden, von Martin Willems herausgegebenen Anthologie „Ich schrieb mich verrückt, Texte von Wolfgang Welt 1979 – 2011“, überwiegend bestehend aus Pop- und Literatur-Rezensionen von Wolfgang Welt aus der Zeit zwischen 1979 und 1982, angerissen und teilweise – unter Vorwegnahme der Einschätzung, dass zur Zeit vielerorts geklonte Ulf Poschardts statt Diederichsens und Welts die popkulturellen Schaltzentralen zu definieren suchen – geklärt werden.
Welts Stil war, im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen von Sounds, von Anfang an stärker autobiographisch und lokal ausgerichtet. Das spürt man in seinen frühen Kritiken für das 1978 gegründete Bochumer Magazin Marabo. Er ist mit seiner direkten Umwelt verwachsen und lässt dies die Leser seiner Essays und Prosa fortwährend wissen. Er ist dabei beileibe kein Lokalpatriot – weit gefehlt – , sondern schafft immer den Blick über den Tellerrand hin zu den neuesten, besten, originellsten und subversivsten Strömungen, die gerade im Umlauf sind. Der für ihn attraktivste Wohnort wäre so auch nicht unbedingt Bochum. Ganz gut vorstellen kann sich Welt, so erfährt man, zum Beispiel ein Leben in London. Wo er in der Vergangenheit auch bereits einmal die Gelegenheit hatte sich für längere Zeit aufzuhalten. Trotz einer handvoll Bücher, die bei Suhrkamp erschienen, ist Welt aber immer noch – auch finanziell – stark ans Ruhrgebiet gebunden, wo er als Nachtwächter im Schauspielhaus Bochum für seinen Unterhalt arbeitet.
Eben, kein ungewöhnlicher Lebenslauf für einen herausragenden Pop-Schreiber. Und für einen solchen ist der Pott doch ein recht komfortabler Aufenthaltsort. Dazu noch die zentrale Lage Bochums. Kaum eine Band, die nicht in Köln, Essen, Düsseldorf, Dortmund, oder eben Bochum auftritt. Und die Literaturszene dort? Nun gut, Welt hat – wie man hier nachlesen kann – auch dazu sehr zahlreiche kritische und scharfsinnige Berichte verfasst. Es sah seiner Meinung nach eher „bedenklich“ aus mit dem Nachwuchs, nicht nur im Revier („Wo ist die Avantgarde?“, taz., 7.7.1998). Neuerdings wird aber offenkundig einiges an Schätzen gehoben. Und nicht nur Welt, auch andere, wie Jürgen Link, Hans Henning Claer oder Eva Kurowski sehen sich mit dem Phänomen ihrer Wiederentdeckung, bzw. Neuentdeckung konfrontiert. Schönen Dank, in diesem Zusammenhang, an all diejenigen, die zum Thema Ruhrgebiets-Autoren in der letzten Zeit einige wichtige Anthologien herausgebracht haben (u.a.: „Das Schwarze sind die Buchstaben – Das Ruhrgebiet in der Gegenwartsliteratur“ herausgegeben von Thomas Ernst & Florian Neuner, assoverlag, Oberhausen 2010; „Ich schreibe, weil … 36 westfälische Autorinnen und Autoren im Interview“, Walter Gödden und Thomas Strauch (Hrsg.) Aisthesis Verlag Bielefeld 2011; oder: „Ruhrgebietsbuch, Jörg Sundermeier und Markus Weckesser (Hrsg.), Verbrecher Verlag Berlin 2011).
Auch hat der Herausgeber des hier behandelten Texts „Ich schrieb mich verrückt“, Martin Willems, zusammen mit Steffen Stadthaus zuletzt noch eine ganz nette Textsammlung zu Wolfgang Welt nachgeschoben („Über Alles oder Nichts“, Annäherungen an das Werk von Wolfgang Welt, Aisthesis Verlag Bielefeld 2013), worin sich zum Beispiel die oben erwähnten Herausgeber Thomas Ernst und Florian Neuner als Autoren wieder finden. Neuner, der schon 2010 seinem „Ruhrtext“ (Klever Verlag Wien) eine Hommage an Wolfgang Welt („Auf der Wilhelmshöhe“) beigefügt hatte, ergänzt diese hier um den Text: „Dérive XXX: Langendreer“. Daneben wird auch Texten Platz eingeräumt, die, wie mir scheint, ein vermeintlich willfähriges Subjekt, also Welt, zu sehr versuchen zu kanonisieren und zu kategorisieren. Wissenschaftliche Determinierung und Vereinnahmung sind vielleicht notwendige Hilfsmittel einer historischen Einordnung, diese hier törnen mich jedoch stilistisch größtenteils ab (Frank Schäfer: „Welt zerrt den Leser zu sich hinunter, in die peinvolle, charakterdeformierende Tristesse seiner schwarzweißen Vita“; Moritz Baßler: „Rock ’n‘ Roll und Schreiben sind hier also gleichursprünglich und bleiben Äquivalente (…). Unmittelbar benachbart sind die anderen Hauptkomplexe von Welts Prosa, nämlich, wie gleich zu Beginn gesehen, das Ficken, aber auch die Psychose“; Werner Streletz: „WoWs Lebenswille tuckert zuverlässig wie ein Otto-Motor“. Inhaltlich mag das ja grob alles hinhauen, wirkt aber in seiner holzschnittartigen Ausführung mehr bemüht rotzig als elegant expressiv.
Auch werden Briefwechsel aus dem Lektorat, sowie mit dem verstorbenen Dichter Hermann Lenz hervorgezerrt, als läge auch Welt schon einige Jährchen unter der Erde: Müller-Schwefe (Lektor): „Hier also, mit dem Einverständnis Wolfgang Welts und des Suhrkamp Verlags, eine O-Ton-Probe aus der Produktion von Doris hilft.“; Martin Willems: „Nach der Lektüre von <<Herbstlicht>> schreibt Welt (1992) letztmals an den verehrten Schriftsteller (Hermann Lenz). (…) Nicht ohne Melancholie blickt Welt auf sein Leben zurück und stellt fest, dass <<eine Menge meiner frühen Idole fuffzig werden & ich werd auch schon vierzig>>“.
Redundant! Welt lassen solche Offerten, wie so ziemlich alle Diskurse über ihn, ja meist kalt – wie Willems ja auch gleich in der Einleitung einräumt: „da scheiß ich doch was drauf“, hätte sich Welt zum Thema „Wiederentdeckung und späte Rehabilitation“ geäußert. Ebenfalls in der Einleitung zu „Über Alles oder Nichts“ resümiert Willems: „Die Veröffentlichung im Suhrkamp-Verlag sorgt für eine umfassende Rezeption in den Feuilletons – Wolfgang Welt avanciert zum Kultautor“. Irgendwie abwegig der Gedanke, dass das Feuilleton ernsthaft Einfluss auf Kult hätte, oder ist neuerdings Popularität = Kult? Gruselvorstellung! Ich muss trotz meiner nicht zu verbergenden Enttäuschung neben Neuners Text auch noch den von Walter Gödden („Kunze ist nur ein belesener Rotzlöffel“) hervorheben. Auch dieser fällt in diesem Feld angenehm auf. Da er es schafft, sich der Rolle Wolfgang Welts als Journalist zurückhaltend und mit großer Ausführlichkeit zu widmen. Das hier besprochene Buch „Ich schrieb mich verrückt“ wird bei ihm systematisch einer akribischen, trockenen Textanalyse unterzogen. Wie bei Neuner, welcher seinen Text zwar als Hommage deklariert, dabei aber erst gar nicht auf die Idee einer Beweihräucherung kommt – stattdessen vordergründig nüchterne Ortsdokumentation und Spurensuche betreibt – , entsteht auch bei Gödden keinerlei Peinlichkeit. Bei den genannten Autoren bleibt es tatsächlich bei Näherungen. Und „Annäherungen“ wurden ja auch im Titel der Anthologie versprochen. Die Textsammlung „Über Alles und Nichts“ entpuppt sich Alles in Allem, in ihrem Glanz und Schrecken, als brauchbarer Fundus für Welt-Entdecker.
Ich bin noch nicht dahinter gekommen, woher der Titel des vorliegenden Buches: „Ich schrieb mich verrückt“ eigentlich kommt. Oder sagen wir mal, ich weigere mich, den Rückschluß, den ich zuerst hatte, hier aufzuschreiben. Die Überschrift: „Auf dem Irrweg“, gefunden im dicken Vorwärts-Sonderheft zum hundertundfünfzigjährigen Jubiläum der Sozialdemokratie – zu einem Artikelchen über Rosa Luxemburg (diese wird darin quasi mitschuldig gesprochen an ihrer Ermordung durch eben jene rechten Schergen, die simultan der SPD den Weg zur ersten Republik auf deutschem Boden freischossen) – hätte der Wolfgang Welt-Anthologie jedenfalls weit besser gestanden.
Zu Welt passt nämlich das Bild einer einsamen, leicht größenwahnsinnigen, egotrippigen Odyssee, auf der er sich ununterbrochen durchkämpfen muss, ganz gut. Aus dem Hafen einer proletarischen Herkunft bricht er kompromisslos auf ins intellektuelle Abenteuerland. Der nun schreibend erfahrende Held, „tapferer Wanderer durch die Elementarkräfte der Natur, durch die glückhaften und fatalen Begegnungen mit der Menschheit“3, „der lachende Vagabund“4, kennt keine Wehmut und keine falschen Zugeständnisse. Keinerlei Unterschiede gibt es für ihn zwischen sozialem Oben und Unten, Protagonisten und Verlegern, Kollegen und Personen aus seinen intimsten Umfeld. Er gerät, wenn, immer nur zufällig in Verlegenheit auf irgend einer Seite stehen zu müssen, sei sie politischer oder moralischer Art. Sein Blick ist stur, aber nicht humorlos nach vorn gerichtet, nach mehr Erlebnis, mehr Erkenntnis, Vorbilder wie Thomas Bernhard, Hermann Lenz oder auch Joyce immer im Kopf. Wenn er dann im Kreis fährt, oder keinen Meter weiterkommt, weil er durch Irgendwas aufgehalten wird, blickt er mittels seiner natürlichen Scheuklappen stoisch nach vorn. Nicht versehentlich über Leichen zu gehen oder mit Idioten zu koalieren – was dabei eigentlich unvermeidbar ist – , gelingt Welt ganz gut, das ist seine Kunst. Oft begleitet von einem relativ rauhen, draufgängerischem Duktus, mit dessen Hilfe er sich die Bahn gern frei schießt – Diederichsen nannte dieses weniger elegante, unpoppige Schreiben 1986 „rockistisch“. Heiße-Luft und Angeberei, wie sie im Hardrock, im Metal, im Gangster-Rap Gang und Gäbe sind. Eine drastische Form der Stilisierung, die Dich entwaffnen, zu Boden bringen soll, aber nur selten in Tragik mündet.
„Ich schrieb mich verrückt“ ist eine Blase, falls man aus diesem Titel ableitet, hier fänden sich völlig durchgedrehte, schizoide Texte am Rande eines Nervenleidens. Nein, – weit gefehlt. Gerade im Vergleich zu vielen Pseudo-Weirdo-Textern und Schick-Absurd-Dadaististen wahrt Welt einen Stil, den man eigentlich nur objektiv-ausgewogen und subjektiv-unverstellt nennen kann. Ja, man kann’s auch literaturwissenschaftlich runterbrechen auf: „Die Erzählinstanz unterwirft den erinnerten Stoff nicht einer klassischen narrativen Logik und enthält sich auch einer eigenen Haltung“ (Steffen Stadthaus in „Über Alles oder Nichts“, siehe oben). Gerade das gewollt nerdige, hippe oder schlaubergerische Schreiben geht ihm total ab. Wenn also Wolfgang Welt irgendwie im „Rachen des Drachen“5, in der Mühle der Popliteratur, irgendwann mal das Tanzen verging oder er die Nerven verlor, dann bestimmt nicht, weil ihm seine eigenen Texte zu sehr über den Kopf wuchsen oder ihn abheben ließen. Dafür wirken diese sämtlich zu sehr geerdet, viel zu sehr nach klassischer Methode bewässert. Wenn etwas die Texte angreifbar macht, dann jenes Element der echten Verwicklung, Verstrickung in die Materie, mit dem Material. Welt bringt sich schonungslos authentisch ein, gibt Intimes und Menschliches preis. Dies wirkt an den betreffenden Stellen – wenn er zum Beispiel anhand seiner sexuellen Erregung die Bedeutung einer Sängerin für ihn versucht zu ermessen und dabei überlegt, ob diese Erregung vielleicht nicht sogar einfach durch die spezifische Haarmode hatte ausgelöst werden können – niemals exhibitionistisch, oder voyeuristisch. Er lässt vielmehr Selbstbeobachtungen hart auf Außenwahrnehmungen prallen. Selbstbeobachtungen, wie wir sie alle zwischendurch vornehmen müssen, weil wir ohne sie gar nicht arbeiten könnten. Nur, dass solche Gedanken dann bei vielen von uns eher wieder ins Verborgene rutschen. Zu profan, primitiv – oder sagen wir besser: nackt – will man sich nicht so gern zeigen, aus der Angst heraus, sich lächerlich zu machen, aus Unsicherheit, nach Außen hin die Lage vielleicht doch nicht so souverän im Griff zu behalten. All das also, was die meisten Schriftstellerinnen, zumindest aber normale Popjournalistinnen, lieber kaschieren, – mit Distinktion, Idiomatisierung, Fiktionalisierung, Dramatik et cetera – inszeniert Wolfgang Welt reichlich, manigfaltig und scheinbar ohne Mühe oder Selbstzensur mittels einer sehr harten Ausleuchtung in Spontan-Zeit, einer erinnerungstechnisch scheinbar sehr direkten, unverschlüsselten, das Außen und das Innen verzahnenden Narration. Einer Erzählart, die man durchaus pornografisch nennen darf, weil sie ständig Existentielles als Sachlage aneinanderreiht, in einer extrem korpuskularen Form – kein Ausweg in die Tiefe, ins Transzendente – nirgends. Nur kontrastreich ausgeleuchtete Vordergrundszenen. Studio-Interieur, -Handlung und -Dialoge.
Dass er über diese Reißverschluß-Technik vermeintlich Autobiographisches und vermeintlich zufällig Gefundenes grobschlächtig verzahnt, statt zu destillieren oder auszuschmücken, ist ganz logisch und folgerichtig. Und das Ganze dann prahlerisch zu Markte zu tragen, mit Polemik und Zuspitzung, weil sie ihn bei seinem Spiel immer weiter treiben – egal, ob imaginär oder real – ist auch clevere (Selbst-)Inszenierung. Die Behauptung, er könne nur autobiographisch schreiben ist irreführend. Er ist ein bewusst drastischer Beleuchter, Ausleuchter, auch seiner eigenen Person. Nicht nur worauf er die Scheinwerfer richtet, nein, auch was er im Dunkeln belässt, gehört zu seinem Plan. Diese selektive Methode wird auch dann angewandt, wenn es beim journalistischen Arbeiten zum Verriss kommt. Wenn zum Beispiel ein ehemals von ihm als hoffnungsvoll eingeschätzter Künstler – vielleicht sogar auch schon als Hoffnung für die gesamte Region oder gar die Musikwelt gepriesen – einen Vertrauensvorschuss in seinen Augen sträflich verspielt, indem er sich politisch schäbig verhält, einen für Welt eindeutig falschen künstlerischen Weg einschlägt. Dann kann er sofort umschalten, den Fokus ganz eng auf die problematische Seite ziehen. Ausgewogenheit sowie Opportunismus wird man in Welts Texten, in Bezug auf Personen, selten finden. Huldigungen sind zwar ebenso rar wie Verrisse, werden aber, wenn, mit großer Geste ausgeführt. Große Kompetenzen entwickelt er aus dieser Festigung heraus als Interviewer von Superstars wie Alan Vega oder Lou Reed. Das macht ihm so schnell keiner nach, wie er sich direkt auf Augenhöhe an seinen Idolen abarbeitet. Das ist dann keine Selbstüberhöhung oder Selbstüberschätzung, sondern einfach die Gabe, das Bewusstsein, sich als Mensch gegenüber einem anderen Menschen zu sehen – und dies auch einzufordern, durchzuhalten. Dazu gehört natürlich auch, sich zuweilen mal daneben benehmen zu dürfen, ja, zu müssen, zum Beispiel, wenn ihm als Person, oder seinem Berufsstand, nicht der nötige Respekt gezollt wird – wie im Falle Helen Schneiders geschehen, welche Interviews mit Lobhudeleien verwechselte, und welcher er gerade heraus eröffnete, sie habe sechs seiner Lieblings-Songs getötet. Nun war es wohl in der kritischen Musikpresse Anfang der Achtziger bereits Konsens, dass man Helen Schneider, Heinz-Rudolf Kunze, Westernhagen, Maffay, Mike Oldfield, Jean-Michel Jarre oder Grönemeyer per se ablehnte. Welt hätte deren Namen ebenfalls einfach ignorieren können. Stattdessen aber, arbeitete er sich gerade auch an diesen Typen ab, denn Kategorien erkannte er in der Pop-Musik nicht an. Mainstream wie Subkultur unterzog er der gleichen kritischen Betrachtung. Mit dieser unideologischen Herangehensweise war er seinen Zeitgenossen schon ein wenig voraus. Und es scheint daher heute so, als wäre er damals einer der wenigen Kritiker gewesen, der die Mainstream-Riege abgewatscht, bzw. – wie im Falle Falco, Cliff Richard, Freddie Quinn usf. geschehen – durchaus deren Leistungen gewürdigt hätte. Viele andere hatten offenbar einfach die Tinte gespart oder sich zu sehr in ihren politischen Schützengräben verschanzt.
Was die oben erwähnten Differenzen zu Ex-Sounds-Mitstreiter Diederichsen angeht – so sind diese natürlich allesamt an den Haaren herbeigezogen. Daraus etwas zu skandalisieren zeugt unter anderem von der eklatanten Profilschwäche sowie dem Niedergang heutiger Pop-Magazine. Was sollte etwa die Steilvorlage zum Revanchismus, siehe die ganz oben zitierte Frage, was Welt seinem schärfsten Kritiker von damals, Diederichsen, heute antworten würde – einfach schamlos und blöd, so zu fragen, Boulevard-Niveau. Die Version, dass Wolfgang Welt an einer Karriere als Pop-Ikone gehindert worden sei, ist reine Geschichtsklitterung: oder was schrieb Wolfgang Frömberg im April in intro? Rainald Goetz, als damals neuer Suhrkamp-Star, und eine negative Kritik von Diederichsen über Welts „Peggy Sue“ („Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene“, Spex Nr.11, Köln 1986) hätten eine frühere Karriere von Welt verhindert. Und: „Verriss-Autor Diederichsen mag den niederschmetternden Text heute bereuen“. Na, klar, hätten sich die Kollegen damals mal besser gegenseitig hochgejubelt. „Verriss-Autor“! Als alles Mögliche, nur gerade als ein solcher ist Diederichsen nie besonders aufgefallen. Er hatte Welt ’86 nicht nur ernsthaft kritisiert („die Geste, ohne Beschönigung, Verklärung, Wahnsinn und vor allem ohne irgendeinen Gedanken mir das komplette, langweilige Leben vor die Füße zu knallen, hat was von Nötigung und Rockism“), er selbst hatte vier Jahre zuvor (1982) auch den ersten Text Welts („Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“) angeregt („Du schreibst ja schnell. Mach zwanzig oder dreißig Seiten in vierzehn Tagen. Es muss über Musik sein und subjektiv“, aus: „Peggy Sue“, S. 122) und in der Anthologie „Staccato. Musik und Leben“ im Kübler-Verlag herausgebracht. Welts Stil als Nötigung durch Darbietungen von vermeintlich langweiligen Situationen zu beschreiben ist doch analytisch brillant. Den Lesern Tristesse vor die Füße zu knallen, wirkt als Geste immer noch subversiver als es jene Clowns sind, die sich für subversiv halten indem sie tagsüber in deviante Rollen schlüpfen und am Abend dann in den richtig teuren Restaurants verschwinden. Der echte Ekstatiker kommt ohne ein gewisses Maß an Tristesse nicht aus, sagte Wolfgang Neuss einmal so ähnlich.
Betrachtet man beide, Welt und Diederichsen und ihre Herangehensweisen einmal nebeneinander, so ergibt sich eher ein ganz versöhnliches Bild mit verblüffenden Analogien. Beide verstehen herrlich zu polemisieren ohne dabei persönlich zu verletzen, beide nehmen die Form der Kritik – auch die der Kurzkritik – sehr ernst, ziehen dort bewusst keinerlei Grenze zur übrigen Literatur. Und beide beherrschen nicht nur ihr Metier, wissen Bescheid, haben den ultimativen Überblick, nein, sie sind ganz und gar darin gefangen, leben darin als Fans, als Soziologen, als politisch sehr engagierte, mindestens brennend interessierte Zeitgenossen. Letztendlich vielleicht weniger Zufall als manche glauben, aber in jedem Fall ein Glück, dass auch Welt sich, wie er polemisierend antwortet, „durchgesetzt“ hat. Nicht gegen Diederichsen, vielmehr gegen große Widerstände, sei es der Markt, die Literaturszene oder einfach das Leben selbst. Jetzt könnte eigentlich der eine dem anderen beispringen, sozusagen als lebender Beweis. Zeigt sich doch in beiden Biographien, dass Popjournalismus jener alten Schule, die einst ernst machte mit der Verwicklung ins Metier, sich auf einer Stufe mit Popmusik artikulieren konnte. Wenn auch einerseits distinktiv: hermeneutisch verheddert, leninistisch aufgebläht, um sich schließlich doch mit dem zuvor systematisch herausgeforderten Bürgertum immer mal wieder partiell zu arrangieren. Und andererseits rockistisch: den mythisch herbeigesehnten Zwittertypus Working-Class-Intellektueller dermaßen überstrapazierend, den Underdog und Triebtäter so sehr pflegend, das dabei der zarte Dandy in ihm nahezu gänzlich in die Emigration gedrängt wurde.
Und so inspiziert Welt bis auf Weiteres die Räume des Schauspielhauses Bochum und Diederichsen liest vorerst weiter seinen Popstudenten respektive WaS-Lesern die Leviten. Und warum? Keine Antwort. Seltsam: Die Ikonen des Popjournalismus sind offenbar weder tot, noch versehrt oder verstummt – sie wurden schlicht zusammen mit der medialen Reibungsfläche Popzeitschrift abgeschafft, brabbeln nurmehr vorwurfsvoll aus dem ächzenden Bücherregal.
„Das Pop-Musik-Kunstwerk ist erst komplett mit einer bestimmten qualifizierten sozialen Rezeption. Es reicht nicht, diese zu behaupten: Sie geschieht, wenn einer sie vorführt, also öffentlich und beispielhaft begeistert ist – oder entsetzt. Und zwar auf die richtige Weise begeistert und entsetzt: in angemessener Würdigung sowohl des künstlerischen Voraussetzungsreichtums wie dessen performativer und bildhafter Verdichtung zu Pop-Musik. Pop-Musik ist offen, die Rezipienten leisten ganze Arbeit. Und nur zu oft ist ihr Anteil bedeutender als der der Musiker, Produzenten, Graphiker, Videoregisseure und wer sonst noch an einem Werk der Pop-Musik beteiligt ist. (…) Man muss ganz persönlich ein Werk vollenden und am eigenen Leibe bei hohem Peinlichkeitsrisiko vorführen, inwieweit eine Platte gute Typen hervorbringt oder nicht und was man selber für einer ist, um dann das so entstandene Aggregat wieder in eine Diskussion einzuführen. (…) Zumindest kann ich Konflikte entstehen lassen, Fronten produzieren, und seien es nur leere Distinktionen. (…) Die von vielen Autoren auf der Suche nach Alternativen zu Markt (und Staat), von Giorgio Agamben bis Slavoj Zizek, im Flirt mit Metaphysik und Religion gewitterte Möglichkeit, Letztbegründung und Renitenz zu SETZEN, gibt es schon und viel besser in von Pop-Musik-Erlebnissen abgeleiteten Szenen: nämlich ohne Religion und fast ohne Metaphysik. (…) Ein Treibhaus, in dem das Versprechen über der Tür hängt, eine Position sei folgenreich – und nicht nur lukrativ. Letzte Zuflucht einer merkwürdigen Metaphysik des Individuellen, einziges Reservoir aber auch einer Politisierung jenseits von Interessenvertretung.“ (Diedrich Diederichsen, Schreiben im Musikzimmer, aus: „Musikzimmer“, Kiepenheuer & Witsch 2005)
Warum schrieb Welt nach seiner Kritiker-Phase fast ausschließlich Romane? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass mich eine Besprechung, sagen wir der neuen Goldene Zitronen-Platte „Who’s Bad?“, oder Ähnliches aus seiner Feder, in größte Aufregung versetzen würde. Und von Diederichsen träume ich mir gerade die Rezension des Sankt Otten-Albums „Messias Maschine“ herbei.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus „Ich schrieb mich verrückt“, mit dem Welt (am Ende seines Features „Die neuen Sterne am Schlagerhimmel“6, in welchem er sich mit den Protagonisten der „Neuen Deutschen Welle“ hautnah auseinander setzt) seinen Förderer und Vorwortschreiber Peter Handke resümieren lässt: „früher war sowieso alles besser. Da brauchte man auch nicht immer von früher zu reden.“
„Ich schrieb mich verrückt“, Texte von Wolfgang Welt 1979 – 2011, Klartext Verlag Essen (2012), hrsg. von Martin Willems
Wolfgang Welt hat neben Popkritik Prosatexte veröffentlicht, die in Form zweier Romane beim Suhrkamp-Verlag Berlin erhältlich sind: „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ (enthält die drei Texte „Peggy Sue“, „Der Tick“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“) sowie „Doris Hilft“.
Text hören:
http://www.literaturport.de/fileadmin/mp3/touren/ruhrgebiet/Wolfgang_Welt.mp3
Quellen:
1 (aus „Ich schreibe, weil … 36 westfälische Autorinnen und Autoren im Interview“, Walter Gödden und Thomas Strauch (Hrsg.), Bielefeld, Aisthesis 2012)
2 (aus ihrem Text „Lochtige Weiber – Wolfgang Welt und die Frauen“ (in „Über Alles oder Nichts“, Annäherungen an das Werk von Wolfgang Welt, Aisthesis Verlag Bielefeld 2013)
3 (Carola Giedion-Welcker in: „Einführung zu James Joyce: Ulysses“, Rhein-Verlag Zürich 1956)
4 (Welt nutzte den Titel manchmal als Zusatz in seinen Artikeln, z.B.: „Über Alles oder Nichts – Der lachende Vagabund sprach mit Alan Vega in Paris!“, in Überblick, Magazin am Rhein #5, 1982 )
5 (Feature zu Bruce Cockburn, dessen 1979er Album „Dancing In The Dragon’s Jaws“ Wolfgang Welt wohl zu dieser Überschrift inspiriert hatte, aus: Marabo #6, 1981)
6 (aus: Musikexpress #9, 1982)