Auf Kante recherchiert – Der Vinyl-Hype als mediales Ereignis
Text: Kanzler | Ressort: Allgemein, Thema | 18. April 2015.
Ich will Streit mit Thaddi Herrmann!
Von Kanzler
Es ist Record Store Day – wer hat’s nicht mitbekommen?
Nach Jahren des stetigen Wachstums ist der Freu-und Feiertag von Vinylenthusiasten nun endlich im Mainstream angekommen und sorgt dieses Jahr für mehr mediale Aufmerksamkeit als jemals zuvor und sogar für die Aufersteheung von Vinyl-Charts. Viel wird in diesen Tagen geschrieben, über Vinyl, den ‚Boom‘ desselben und eben diesen Tag, der mittlerweile Synonym, Anlass und Symptom für eine Kontroverse geworden ist, die viel tiefer reicht, als an der Oberfläche sichtbar scheint. Der RSD, wie wir den Record Store Day im Folgenden abkürzen wollen, ist ein ‚Thema‘ wie wir in unserer Branche gerne sagen – im Übrigen ein Begriff, der mir in Zusammenhang mit Musikpromotion immer schon Kopfschmerzen und leichten bis mittelschweren Brechreiz ausgelöst hat. Aber behalten wir ihn ruhig mal bei, weil es so schön passt, denn vieles, was in Zusammenhang mit dem ‚Thema‘ RSD, über ihn und wegen ihm geschrieben wird, löst bei mir ähnliche Gefühle aus – und dabei meine ich nicht seine prinzipielle Existenz. Die Schallplatte gilt auch für den Schreiber dieser Zeilen als das Nonplusultra der Klangkonservierung und weil es so ein schönes Wortspiel ist, bekenne ich mich ebenfalls zu einem ziemlich renitenten Konservatismus, was die Archivierung von Musik angeht: Musik auf Platte, da geht nicht drüber und der ‚Boom‘, in wirtschaftspolitischer Hinsicht die Konsolidierung eines Nischenmarktes mit Tendenzen zur langfristigen Stabilisierung läuft mir gut rein. Ich hab auch kein Problem damit, dass sich Medien auf das Phänomen stürzen und geschmäcklerisch ihr mitunter wahnwitziges Sendungsbewusstsein in Sachen Strukturierung von Lifestyle wahrnehmen wollen. Da bin ich ganz liberal – wenn das einer liest, dann darf das auch einer schreiben, wobei das wohlgemerkt nicht als generelle Absolution meinerseits für jedwede Form von Reißerjournalismus verstanden werden soll, aber das wäre Thema für einen anderen Artikel. Nein, beschränken wir uns auf Lifestyle: Im selben Unverständnis, mit dem ich den Campierenden vor dem Adidas-Flagship-Store neben meinem Büro begegne, die dort tagelang ausharren, um die Ankunft eines limitierten Kanye-West-Schuhs zu erwarten, bemühe ich mich die Begeisterung für ein anachronistiches Produkt zu begreifen, dass plötzlich und, ja, unerwartet eine unglaubliche Steigerung in der Akzeptanz, dem Umsatz und der Verankerung in der Kultur der postmodernen Gesellschaft hingelegt hat. Wahrscheinlich ist es genau das. Anachronismus. Berliner Stadtschloss. Artworks, die die Funktion der Form unterordnen, verdammt, sogar bei Ikea gibt’s mittlerweile Schränke mit Intarsien. Fake natürlich, ist ja klar.
Stil und Pose statt Inhalt und Ton
Und damit sind wir beim Stichwort. Fake. So wie vieles, was uns in Zusammenhang mit dem Vinylboom begegnet mehr Schein als Sein ist, mehr Style als Inhalt und mehr Posing als tatsächliche Verbeugung verhält es sich offenbar auch mit der medialen Auseinandersetzung darüber. Ohne hier eine medienkritische Diskussion losbrechen zu wollen; machen wir uns nichts vor: zur Selbstdarstellung und zum medialem Breittreten vermeintlicher (weil lediglich zur Schau gestellter) Distinktion eignet sich der Vinylboom und der RSD dieser Tage wie nichts anderes. Das wäre an sich nichts verwerfliches, wenn dabei nicht mitunter das grundlegende Handwerk der Recherche und faktisch richtigen Darstellung vernachlässigt werden würde, wie in dem jüngst auf www.dasfilter.com erschienen Artikel und ob seiner auf Biegen und Brechen eine Kontroverse geradezu herbeischreienden Reißerhaftigkeit.
Kein Wunder möchte man meinen, dass das Ding derart viral gegangen ist und tausendfach geliket, gelesen und für gut befunden wurde. Mit Haudrauf-Thesen können schließlich nicht nur die Bild-Zeitung, sondern auch GROOVE und Factmag.com poltern. Das wäre in der Tat alles halb so schlimm, wenn diese Artikel nicht vor Fehlern und problematischen Ergebnissen nachlässiger Recherche nur so strotzen würde, dass sich der Schreiber dieser Zeilen bemüßigt fühlt, dem eben erfolgten Rant einen Faktencheck folgen zu lassen, der bitte zwar als Antwort auf www.dasfilter.com/kultur/auf-kante-gepresst-warum-der-vinyl-hype-die-schallplatte-kaputtmacht verstanden werden darf, aber auch einiges geraderücken möchte, was Thaddeus Herrmann in seinem sicher gut gemeinten Feature anderswo abgeschrieben oder unreflektiert multipliziert hat und v.a. auch an jene, die es dann wieder bei ihm abgekupfern. Doch jetzt der Reihe nach:
Alte, nicht veraltete Technik
„Die Musikindustrie hat ein Problem.“ Soweit gehe ich mit. Und zwar aus vollem Herzen. Mal ganz davon abgesehen, dass trotz Steigerung der verkauften Stückzahlen um durchschnittlich 50 % pro Jahr (!) in den letzten 5 Jahren Vinyl einen immer noch so geringen Anteil am Gesamtumsatz der Tonträgerbranche darstellt, dass man schwerlich von einem Rettungsanker sprechen mag, lässt uns die derzeitige mediale Präsenz vermuten, dass der Boom zumindest einem Nischenmarkt zu neuer Blüte verholfen hat, der aktuell jedoch schon wieder bedroht ist. Mit dieser These steigt Thaddeus Herrmann in seinen Beitrag ein und liefert einen groben Umriss des Problems: „aufwendige Produktion, wegbrechendes Expertenwissen und antiquierte Technik“ – das stimmt so erstmal. Die derzeit benutzten Maschinen in allen Presswerken auf der Welt haben alle mindestens 30 Jahre auf dem Buckel und die grundsätzliche Technologie hat sich in den letzten 60 Jahren nicht entwickelt. Produktionsvorbereitung, Produktion und Verpackung finden fast ausschließlich manuell statt. Das Geschäft ist kleinteilig und wird zumeist aufgrund der hohen Transaktionskosten industriell abgewickelt, auch wenn es eigentlich Manufakturprozesse erfordern würde. Die Auflagen haben sich in den letzten Jahren stetig verkleinert, was dazu führt, dass durch notwendige Vorleistungen und Maschineneinrichtung die Gesamtfertigungsmenge sinkt. Ein einfaches Beispiel: es macht relativ wenig Unterschied in der Zeitplanung, ob man auf einem Grill 5, 10 oder 20 Würste grillt, wenn er einmal heiß ist. Und den Rost muss man reinigen, egal wieviele Würste oder Bratlinge drauf lagen. Je mehr Würste man grillt, umso besser verhält sich jedoch Kosten zu Nutzen und man würde sicher überlegen, ob man für eine Wurst überhaupt den Grill anschmeißt. Bei einem Presswerk bedeutet es, dass Maschinen heute für Auflagen vorwiegend im 500er bis 2000er Bereich aufgerüstet werden, während es Mitte der 80er Jahre die zehn-oder mehrfachen Auflagen waren. Hinzu kommen limitierte Kleinstauflagen meist auf farbigem Vinyl, die zusätzliche Maschinenreinigung erfordern und erhöhten Ausschuss produzieren bis die Pressung eine reine Farbe ausspuckt. Das Problem liegt auf der Hand: Zeitaufwendige Vorarbeiten bei geringerem Ausstoß und Maschinen, die dadurch einem höheren Verschleiß unterliegen und intensiver gewartet werden müssen, sind die Folge. Hierbei ist nicht nur die Galvanik der „Flaschenhals“ sondern Bereiche wie Schnitt, Verpackung, Qualitätskontrolle ebenso. Aufgrund der Besonderheiten der Vinylfertigung lassen sich diese Bereiche aus unterschiedlichsten Gründen nicht von heute auf morgen erweitern und der Nachfrage anpassen. Galvanik erfordert Sachverstand und die Einrichtung entsprechender Bäder hohe Investitionen und eine gewisse Bauzeit. Im Vinylschnitt sind Maschinen notwendig, die nicht mehr gebaut werden und eine Neuprojektierung würde ebenfalls hohe Investitionen und lange Entwicklungskosten bedeuten. In der Verpackung und Qualitätskontrolle sind Mitarbeiter nötig, die nicht nur das entsprechende Know How mitbringen oder erlernen wollen, sondern auch solche, die langfristig mit der relativen Eintönigkeit umgehen können. Es sollte verständlich sein, dass eine Branche, die in den letzten 20 Jahren von Krise zu Krise gehechelt ist (aus welchen Gründen auch immer…) und Verluste eines wegbrechenden Geschäfts vor allem im CD-Markt auffangen musste, etwas zaghaft an Investitionen herangeht. Hierbei liegt die Betonung klar auf „etwas“, denn die notwendigen Investitionen wurden getätigt und waren bzw. sind aufgrund technologischer Voraussetzungen natürlich nicht von jetzt auf gleich spürbar. Ein Galvanikbad kann modern und neu gebaut werden, es ist aber leider nicht im Prime-Account innerhalb von 24h bei Amazon zu bestellen, sondern erfordert Bauzeit, Materialbeschaffung und Vorleistungen, die Zeit brauchen.
Kleinteiligkeit als Geschäftsmodell und Problem zugleich
Betrachtet man unter diesem Eindruck nunmehr wieder den Markt, stellt man fest, dass es fast ausschließlich Independent-Labels sind, die den Markt unter den o.a. Bedingungen strukturieren und v.a. Kleinteiligkeit befördern, sie mitunter gar zum Geschäftsmodell erheben, wie es bei farbigem Vinyl besonders deutlich wird: limitierte Editionen werden teurer als Standardeditionen auf schwarzem Vinyl verkauft oder man spekuliert auf Mehrfachkäufer. Das ist mitnichten Erfindung und Geschäftsmodell der Majors.
Das alles dient nicht dazu, um den sprichwörtlichen Zeigefinger auszustrecken und einen Schuldigen auszumachen, sondern soll illustrieren, dass es eben nicht so einfach ist die Kapazitätsprobleme allein den Presswerken oder Majors anzulasten, deren Katalogauswertungen in großen Boxsets zwar in der Tat große Kapazitäten beanspruchen, aber damit ja auch eine Nachfrage bedienen sowie durchaus auch künstlerische Arbeit leisten. Und aus rein kommerziellen Erwägungen Archive auszuwerten ist kein Alleinstellungsmerkmal der Majors sondern findet im Indie-Sektor genauso statt. In den Presswerken sitzen überdies auch Entscheider, die sehr wohl den Markt beobachten und einzuschätzen wissen, wer die Schallplatte über all die Jahre am Leben erhalten hat und dass es wenig Sinn macht, diese Kunden zu vergraulen. Dass Mails kursieren, in denen Majors versuchen, sich Kapazitäten in Presswerken zu kaufen, kann hier getrost als Märchen absortiert werden, da in den Herstellungsabteilungen der großen Konzerne ebenfalls halbwegs geschultes Personal sitzt, das genau weiß, dass ein solches Vorgehen niemals Erfolg haben würde.
Eventuelle Engpässe und Kapazitätsprobleme den Presswerken anzulasten, wie es Herrmann in seinem Text tut wäre also nicht nur kurzsichtig, sondern auch unlauter. So war es bei der Erweiterung der Vinylproduktion des Werkes optimal media in Röbel an der Müritz mitnichten unzureichende Planung bei der Gasversorgung, sondern vielmehr langwierige Verzögerungen beim Anschluss der Gasleitung durch den Gasversorger selbst, unter dem optimal im selben Maße leiden musste wie die Kunden.
Ebenfalls völlig falsch ist die Darstellung dass einerseits wichtige Investitionen versäumt wurden und Margen bei der Vinylherstellung besonders hoch sind. Das Gegenteil ist der Fall. Rechnet man ständig notwendige Wartung und aufwendige Kalibrierung der Maschinen, Energiekosten, die Ausbildung neuer Fachkräfte, Handverpackung unter den Bedingungen des ab 1.1.2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohns hinzu, sind die Margen im Vergleich zu artverwandten Technologien ausgesprochen moderat bis niedrig, zumal sich gerade deutsche Unternehmen in einer Konkurrenzsituation zu Unternehmen befinden, die im europäischen Ausland unter anderen gesetzlichen Bedingungen vor allem in umwelt-und sozialpolitischer Hinsicht produzieren. Notwendige Investitionen wurden nicht versäumt, sondern richteten sich konsequent an betriebswirtschaftlichen Erfordernissen aus. Während die heute noch existierenden Presswerke alte Maschinen großer Firmen aufkauften und teilweise geradezu liebevoll restaurierten ohne die Erwartung, jemals signifikante Umsätze damit zu erzielen, Prozesse immer weiter optimierten und automatisierten, waren es in der Tat Independent Labels aus dem House und Techno Bereich aber ebenso Punk, Garage Rock und Soul, die durch regelmäßige Veröffentlichungen das Format am Leben erhielten. Verhältnismäßig moderate Lieferzeiten konnten u.a. auch durch nicht 100%ige Auslastung der Maschinen erreicht werden, wobei die Regellieferzeit seit etwa 20 Jahren unverändert bei ca. 2-3 Wochen für eine Pressung steht, wohlgemerkt je Pressung: Wenn ein Kunde bspw. Die Qualität des Vinylschnitts mittels einer Testpressung bewerten will, wird diese Lieferzeit zweimalig fällig oder bzw. so lange bis die Platte (=Testpressung) so klingt, wie der Kunde oder Künstler es wünscht. Die ‚notwendigen‘ Investitionen waren also bis zum Start des Vinyl-Hypes die Erhaltung der Maschinen selbst und ihre Auslastung folgte betriebswirtschaftlichen Erwägungen. Mit dem Boom selbst begannen dann auch alle Presswerke sofort mit Investitionen in Galvanik und dem Aufbau weiterer Maschinen – wann immer irgendwo die Kunde verfügbarer Maschinen die Runde machte konnte man Tage später Techniker aller großen Presswerke erleben, die mitunter um die halbe Welt jetteten und Maschinen begutachteten, bewerteten und sich im Auftrag ihrer Unternehmen gegenseitig überboten um die begehrten Ungetüme nach Hause zu holen. Dabei wurden mitunter exorbitante Preise gezahlt die das Argument von hohen Margen aufgrund abbezahlter Maschinen regelrecht lächerlich machen. Die derzeit in Europa aktiven großen Presswerke Pallas, optimal media (Deutschland), GZ (Tschechische Republik), MPO (Frankreich), Record Industry (Niederlande, bei Herrmann fälschlich als Record Industries bezeichnet) und Vinyl Factory (Großbritannien) teilen den Markt ergänzt um kleinere Unternehmen wie R.A.N.D., A.meise, Diamond Black, MLV, Flight13 Duplication unter sich auf und auch wenn die Anzahl der Presswerke überschaubar ist, hat sich im Vinylbereich ein gesunder Wettbewerb herausgebildet in dem die Werke mit unterschiedlichem Fokus auf die neuen Bedingungen reagieren: so spezialisieren sich einige Werk auf farbiges Vinyl während andere Komplettlösungen inkl. aufwendiger Druckverfahren für Cover und besonderer Veredelungen anbieten.
Warum gibt es den Vinylboom?
Vinyl ist wichtig. Vinyl wird gekauft. Vinyl ist kalkulierbar für veröffentlichende Labels und hat sich weitestgehend Perversionen des Tonträgermarktes verweigert, indem es nicht mehr grundsätzlich, doch aber überwiegend ohne Retourenrecht verkauft wird und z.B. relativ immun gegen Rabattschlachten ist. Die Gründe liegen hier in der exklusiven Haptik und der romantischen Konnotation. Die Liste ließe sich fortführen – einigen wir uns darauf, dass Platten v.a. für Labels wesentlich einfacher zu kalkulieren und obgleich der hohen Stück- und Transaktionskosten (u.a. Lagerhaltung und Porto) relativ genau einzuschätzen sind. Dabei nivelliert Vinyl die Unterschiede zwischen Majors und Independent-Labels, weil es die Zugangsvoraussetzungen zum Markt für beide gleich anlegt. Noch gibt es keine Mindestabnahmemengen oder Leerverkäufe auf dem Vinylmarkt, die dafür sorgen, dass Stellflächen in den Märkten mit Tonträgern geflutet werden, die einzig und allein zur Verdrängung der Konkurrenz platziert werden. Noch verhökern große Ketten ihre Stellflächen noch nicht für Bonuszahlungen und dort wo die Indies Schwierigkeiten haben, ihre Produkte zu platzieren, gleichen sie durch die Belieferung spezialisierter Mailorder oder Verkäufer aus, die ihre Stände auf Nischenfestivals aufbauen und gezielt die Fans bedienen, die von den Majors über Jahrzehnte missachtet und belächelt wurden. Ja, man kann sagen, der derzeitige Status ist ziemlich gesund für alle Seiten. Dass es nicht so bleiben wird, wissen wir aus der Geschichte. Denn schon lassen sich auf beiden Seiten des Lagers Tendenzen ausmachen, Territorien des jeweils anderen zu okkupieren. Die Majors fluten den Markt mit Katalogauswertungen mit mal mehr mal weniger künstlerischem Anspruch und bewegen sich damit eindeutig auf Indie-Terrain und bei den Indies lässt sich eine Tendenz zur Kommerzialisierung bemerken, die den künstlerischen Inhalt und die Qualität in den Hintergrund treten lässt zugunsten möglichst hoher Verkaufszahlen und hoher Margen durch bspw. farbiges Vinyl oder Picture-Discs, deren Press-und damit Klangqualität im Vergleich zur schwarzen Platte definitv abfällt, die aber trotzdem nachgefragt werden und bestimmte Veröffentlichungen bereits zum Veröffentlichungstag zum Spekulationsobjekt werden lassen. Sicher, limitierte Auflagen hat es immer gegeben, hier wird die Spekulation allerdings zum Geschäftsmodell, das den musikalischen Inhalt als Nachfrageinstrument regelrecht ausbeutet. Den Adorno lasse ich jetzt aber mal stecken, wir sind ja schon auf Seite 5.
Also zurück zum Thema: ein weiterer Punkt, den Thaddeus Herrmann anführt ist die Frustration insbesondere bei Betreibern von Techno- und House-Labels, die die Platte als Format nie aufgegeben haben und in seiner Lesart hauptsächlich dafür verantwortlich sind, dass sie überlebt hat. Auch wenn es sich quantitativ sicher schwer verifizieren lässt, ist davon auszugehen, dass auch diese Aussage etwas zu forsch geraten ist, vor allem wenn man die Platte mehr romantisiert als Techno das je selbst getan hat. In der elektronischen Musik, die vorwiegend durch Clubs, DJs und entsprechend affine Kreise getragen wurde, nahm die Platte vor allem den Platz eines Mediums ein, das relativ unkompliziert und in kleinen Stückzahlen (zumindest kleiner als CDs) reproduziert werden konnte. Sog. Dubplates versetzten die Labels gar in die Lage neue Tracks quasi im Handumdrehen und in ganz exklusiven Stückzahlen in die Clubs zu bringen, wo sie direkt gespielt werden konnten. Zunächst lag dieser Herangehensweise also lediglich eine praktische Erwägung zugrunde, aus der dann erst später eine kulturelle Konnotation folgte. Die Aufgabe der schnellen ‚Nutzbarmachung‘ neuer Tracks erfüllt heute die mp3 oder vergleichbare Formate trefflich und es ist davon auszugehen, dass gerade im Bereich der elektronischen Musik DJs von der Vinyl über ein kurzes Intermezzo bei der CD nun beim Laptop angekommen sind und die Platte als DJ Medium ein Exot geworden ist. Aufgelegt wird digital. Vinyl-Verkaufszahlen im elektronischen Bereich sind niedrig wie niemals zuvor. Von der Seitwärtsüberlegung, dass elektronische Musik zwangsläufig digital erzeugt wird und die Vorzüge eines analogen Mediums wie die Platte nicht wirklich greifbar gemacht werden können, lassen wir uns hier mal nicht aus der Ruhe bringen, trifft sie doch auf sicher weit über 90% aller heute auf LP gepressten Klänge zu, die in ihrer Konservierung an mindestens einer Stelle einen Digitalisierungsschritt durchlaufen haben. Auch das ist ein eigenes, abendfüllendes Thema.
Der These Vinyl wurde zuerst und in ganz besonderem Maße durch Techno, House, HipHop und andere Spielarten der elektronischen Musik am Leben erhalten, steht die Geschichte einer äußerst vitalen Garage Punk-, Rock’n’Roll- und Soul-Szene, die mindestens einen ebenso großen Anteil am Überleben der Schallplatte hat, aber mit völlig anderer Prämisse: weil die Platte neben dem Tonband und der Kassette das einzige adäquate Medium einer puristisch und grundsätzlich auf analoger Klangerzeugung, -verarbeitung und –verbreitung aufbauenden Musik ist. Die Platte ist hier notwendiges Element der Kultur und nicht einfach nur ein funktionables Medium.
Mit der Herausbildung von Jugendkulturen Ende der 90er Jahre, deren konstituierendes Element Bricolage und eben nicht mehr Abgrenzung waren, hielten auch die Codes verschiedener puristischer, bisweilen anachronistischer musikalischer Selbstverständnisse Einzug auch in andere Szenen. Blues und Soul meldeten mit der Grunge-Explosion ihre Mittäterschaft im Metal an, Rock’n’Roll und Rockabilly verbrüderten sich mit Punk und Hardcore, psychedelische Elemente und Codes der 70er Jahre Rockexplosion fanden sich in nahezu allen Spielarten des Metal, Punk und sogar im Pop wieder. Und alle diese Attitüden brachten immer wenigstens eine kleine Prise Begeisterung für die Platte mit, weil sie schlicht und einfach als konstitutionelles Element jeder musikalischen Subkultur gelten kann. Eine Renaissance der Schallplatte war also nur eine Frage der Zeit und eine Frage der Wucht, wie diese sich manifestieren würde.
Die oben beschriebenen Besonderheiten des Vinylmarkts und einige Protagonisten die im richtigen Moment das Potential erkannt haben und eventuell mit prophetischem Eifer, aus Begeisterung für die Schallplatte selbst oder kommerziellen Erwägungen dem sich aufbauenden Hype unter die Arme griffen waren letztlich wichtige Katalysatoren der Explosion. Die Idee des Record Store Day wie auch die Vinyldisplays der Fa. Cargo in den Media/Saturn-Märkten sind hier prominente Beispiele ebenso wie Läden, die konsequent Vinyl anbieten wie Rough Trade in London. Die Liste ist lang, das Ergebnis in diesem Jahr prominenter diskutiert als zuvor. Aus dem Trend ist eine kleine Bewegung geworden, Zuwachsraten von durchschnittlich 50%, in 2014 sogar darüber und das seit nunmehr 5 Jahren – das ist kein kurzlebiger Aufschwung mehr. Und wo Geschichte gemacht wird, fehlt auch das Drama nicht. Und das bringt uns zurück zur breit diskutierten und kolportierten Krise und der Fragestellung wieviel denn nun eigentlich stimmt vom düsteren Bild, das Thaddeus Herrmann in seinem Artikel zeichnet?
Letzte Ausfahrt Kapazitätserweiterung?
Zunächst einmal muss man festhalten, dass ein Teil der Ausführungen von Thaddeus Herrmann schlichtweg falsch sind und in der Praxis nicht verifiziert werden können:
- Je nach Presswerk dauert eine Pressung mitnichten 3-4 Monate, sondern so gut wie alle Presswerke benötigen ab Mastereingang bzw. nach Freigabe einer Testpressung ca. 4 Wochen zur fertigen Pressung. Das bedeutet mit Anfertigung einer Testpressung ergibt das eine reine Produktionszeit von 2 Monaten, ohne Testpressung einen Monat. In weniger veröffentlichungsintensiven Phasen kann die Lieferzeit auf bis zu 12 Werktage (zweieinhalb Wochen!) pro Pressung reduziert werden. Mitte 2014 kam es zu einem kurzzeitigen Produktionsstau bei einem europäischen und einem amerikanischen Presswerk, der aber abgebaut werden konnte. Die optimal media GmbH, die Thaddeus Herrmann in seinem Artikel beispielhaft anführt, hat seit Mai 2014 keine Veränderung der Regellaufzeit vorgenommen, von einigen wenigen Anpassungen in Stoßzeiten von 2-5 Tagen nach oben oder unten abgesehen.
- Die Fertigungszeiten im Vorfeld des RSD 2015 haben sich nirgendwo signifikant erhöht. Allerdings ist abzusehen, dass jetzt, nach dem Record Store Day eine weitere Welle an Bestellungen über die Presswerke hereinbricht. Der Effekt war bereits 2014 zu beobachten, da viele Kunden Veröffentlichungen auf die Zeit nach dem RSD gelegt haben, um die Pressung besser planen zu können und Verkaufs-und Präsentationsflächen leichter zu bekommen.
- Die Galvanik ist nicht DER Flaschenhals, sondern wenn überhaupt, nur einer. Im Gegensatz zum Vinylschnitt oder der eigentlichen Pressung kann die Galvanik-Kapazität der Presswerke zumindest theoretisch jederzeit erweitert werden – natürlich unter Beachtung von Kosten/ Nutzen-Analysen und verfügbaren Mitarbeitern, die ausreichend geschult sind. Es gibt aber keine Bremse durch entweder nicht mehr verfügbare Maschinen oder exorbitante Entwicklungskosten.
- Bestrebungen von Major-Konzernen, Kapazitäten bei Presswerken zu kaufen und Indielabels aus dem Markt zu drängen sind bisher nicht bekannt, wären darüberhinaus aber auch chancenlos
Einige Punkte sind jedoch vollkommen richtig und sollten reichen, Entscheidungsträger an allen Knoten der Wertschöpfungskette zu sensibiliseren ohne dass Schuldzuweisungen nötig sind:
- So verlockend auch die x-te Wiederveröffentlichung einer Platte sein mag – die Kapazität zu ihrer Pressung sollte wie eine knappe Ressource bewertet werden, was sie ja auch ist. D.h. es sollte stets die Frage im Raum stehen, ob die Veröffentlichung Käufer finden kann, oder am Ende als Ladenhüter übrig bleibt – ganz nebenbei bemerkt macht so eine Überlegung auch aus ganz anderer Perspektive Sinn, denn Plattenherstellung ist mal so gar nicht umweltfreundlich.
- Kapazitätserweiterung in moderater Form, orientiert an den Anforderungen ist nötig – und zwar dort, wo sie auch möglich ist: Galvanik, Ersatzteilbeschaffung und Prozessoptimierung. Bereits jetzt arbeiten einige Presswerke mit einem Kapazitätsplanungssystem, in dem die mögliche Menge der Platten nach Anforderung und in Absprache mit den Bestandskunden unter diesen aufgeteilt wird und bereits ein halbes Jahr oder mehr im Voraus mit den Labels Veröffentlichungen geplant werden mit feststehenden Daten zu denen Master und Grafikvorlagen angeliefert werden. So eine Planung setzt natürlich eine gewisse Professionalität bei Labels und Künstlern voraus. Der Lohn sind jedoch garantierte Liefertermine, da die entsprechende Kapazität im Voraus reserviert ist.
- Hält der Boom weiter an wird auch über die Projektierung neuer Maschinen nachzudenken sein. Entsprechende Analysen laufen schon seit geraumer Zeit und in zwei Presswerken haben bereits neue Maschinen Testbetrieb aufgenommen.
Quo Vadis Vinylmarkt?
Investitionen und Kapazitätserweiterungen bei den Presswerken werden das Problem allein jedoch nicht richten. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der Boom sich abschwächen wird – die wirklich verkaufsfähigen Archive sind irgendwann einfach alle wiederveröffentlicht – scheint eine Auseinandersetzung mit Marktmechanismen ebenfalls angezeigt. Eine gewisse Nachhaltigkeit der Entwicklung muss sowohl bei Indies wie auch bei Majors gewährleistet sein und sowohl Vinyl-Endverbraucher wie auch veröffentlichende Labels müssen sich über die Spezifik des Mediums austauschen und seine Eigenheiten anerkennen. Dazu gehört z.B. dass Schallplattenfertigung auch unter idealen Bedingungen Zeit braucht, dass eine Platte nach unseren heutigen Maßstäben kein High End Produkt sein kann und nie sein wird und dass sowohl Handel und Vermarktung sich auf diese Besonderheiten einstellen müssen. D.h.: es wird darüber nachzudenken sein, ob Vorverkaufsperioden, die dem Label eine ungefähre Idee davon geben, wie die Platte im Handel angenommen wird, worauf das Label dann wieder seine Bestellung beim Presswerk ausrichtet nicht verlängert werden müssen und sich nach Produktionszyklen richten. Es muss diskutiert werden, ob es noch zeitgemäß ist, dass die Musikpresse bspw. Platten nur im Monat der Veröffentlichung featured und Veröffentlichungen die nur auf Vinyl erscheinen in speziellen Vinylrubriken ghettoisiert.
Machen wir uns nichts vor: unser gesamtes Business, die Wechselwirkungen und das Setup Veröffentlichung, Kampagne, Tour, Pressearbeit etc. ist rund um die CD designt. Vor Einführung der CD gab es keine Kampagnenarbeit auf einem so professionellen Level wie heute.
Marketing- und Promotionkampagnen müssen daher in Zukunft der Tatsache Rechnung tragen, dass Platten nicht wie CDs innerhalb weniger Tage in x-beliebigen Stückzahlen nachgefertigt werden und sich einem hochflexiblen Markt anpassen können. In Zusammenarbeit mit dem Handel muss Sorge getragen werden, dass eine Platte, die 1-2 Wochen mal nicht lieferbar ist, mit der Nachfertigung wieder angeboten wird.
Und zu guter Letzt sind die Labels gefordert, ihre Planungen auf die Bedingungen anzupassen. Dabei sind nicht nur langfristigere Planungen nötig sondern auch die Diskussion mit Künstlern und den Presswerken selbst. Genauso wie die Labels ein Interesse daran haben ihre verfügbaren Ressourcen sinnvoll zu nutzen und zu verwalten, gibt es dieses Interesse auch bei den Presswerken. Egal, ob man mit künstlerischem Anspruch oder aus rein kommerziellem Blickwinkel an das Problem herangeht sollte klar sein dass Schuldzuweisungen und utopische Forderungen beider Seiten an die jeweils andere zu gar nichts führen. Leider ist zu beobachten, dass, wenn es zu solchen kritischen Begegnungen kommt, die Ursachen immer in Unkenntnis zu finden sind: Entscheidungsträger in den Pressswerken müssen sich viel intensiver mit den Grundlagen des Tonträgermarktes, seinen Anforderungen und Strukturen auseinandersetzen und Labelbetreiber werden sich in Zukunft nicht auf den Posten ‚mir egal wie das funktioniert, ich will nur meine Platten in bester Qualität und schnell‘ zurückziehen können. Der generelle Paradigmenwechsel, der unsere Gesellschaft in den letzten Jahren geschliffen hat, gekennzeichnet durch die Verfügbarkeit von allem und jedem zu jeder Qualität, zu jeder Zeit und zu jedem Preis musste einen Bogen um die Schallplattenfertigung machen. Sie wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen und sie ist es auch, aber vielleicht ist sie deshalb nicht nur wichtig, sondern auch Teil einer so unerwarteten Erfolgsgeschichte. Womit wir wieder beim Anachronismus und der kulturellen Konnotation angekommen wären.