Rest vom Fest
Text: Redaktion | Ressort: Film | 22. Januar 2024Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten hat Alexander Payne eine Schwäche für die Spezies Mensch. Seine meist männlichen Protagonisten sind nicht wirklich sympathisch, aber in der Offenbarung ihrer Schwächen absolut liebenswert. Sei es der pedantische Rentner Warren Schmidt in »About Schmidt«, der überforderte Vater in »The Descendants« oder der nichtsnutzige Sohn eines alkoholkranken Vaters in »Nebraska« – sie alle begleiten wir auf einer kathartischen Reise, an deren Ziel die Versöhnung mit ihrer kläglichen Existenz steht. Denn obwohl er ein Meister der Tragikomödie ist, bleibt Payne am Ende ein unverbesserlicher Humanist, der das Gute in seinen Figuren sucht.
Mit Paul Giamatti fand er die perfekte Personifizierung seines Archetyps. Unscheinbar, unter dem fliehenden Haaransatz und den tiefen Augenringen, verbirgt sich ein nuancierter Charakterdarsteller. Das beweist er erneut in »The Holdovers«. Fast zwanzig Jahre nach ihrer Zusammenarbeit in »Sideways« steht Giamatti erneut vor der Kamera von Payne und der verpasst ihm nicht nur einen unvorteilhaften Schnäuzer. Er macht ihn auch zum unbeliebtesten Lehrer im Kollegium eines prestigeträchtigen Elitecolleges. Dieser Paul Hunham ist streng, überkorrekt, verbittert und ein passionierter Whiskeytrinker. Am liebsten vergräbt er sich inmitten seiner Bücher. Mit Menschen interagiert er dagegen eher ungern.
Als ein Nachhilfelehrer für die Weihnachtstage gesucht wird, fällt die Wahl natürlich auf Paul und so findet der Misanthrop sich mit einer Gruppe von gestrandeten Teenagern, die von ihren Eltern vergessen wurden, in dem ansonsten menschenleeren Anwesen wieder. Einer von ihnen ist Angus (Dominic Sessa). Seine Mutter hat einen neuen Partner und würde die gemeinsamen Flitterwochen ungern für den Sohnemann unterbrechen. Als die anderen Schüler einen Ausweg finden, bleiben nur noch Paul und Angus zurück. An ihrer Seite, die resolute Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph). Notgedrungen müssen sie sich zusammenraufen, um die Feiertage irgendwie erträglich zu machen.
Dabei offenbaren die Figuren bisher unbekannte Seiten. Jede von ihnen hat ihre Geschichte, die sie an diesen Punkt geführt hat. Was als eine Art »Breakfast Club« in den Siebzigern beginnt, entwickelt sich zu einem konzentrierten Charakterspiel zwischen dem Heranwachsenden und seiner unfreiwilligen Vaterfigur. Alexanders Paynes Film erinnert dabei nicht von ungefähr an die Werke von Hal Ashby (»Harold & Maude«). Nicht nur im Setting und der Ästhetik des Kinos der Siebziger, mit einer langen Eingangssequenz auf dem Campus über der die Credits rollen. Auch im Ton hat »The Holdovers« viel von Ashbys melancholischen Meisterwerken.
Darüber hinaus hat „The Holdovers“ mit Mary eine der besten weiblichen Nebenfiguren der Filmgeschichte zu bieten, großartig verkörpert von Da’Vine Joy Randolph (»Only Murders in the Building«). In Mary liegt eine tiefe Traurigkeit, die sie mit ihrem rauen Charme überspielt. Dominic Sessa schließlich ist in seiner ersten Leinwandrolle ebenso perfekt besetzt und strahlt die Unsicherheit eines Heranwachsenden auf der Schwelle zum Erwachsenwerden aus. »The Holdovers« nimmt sich Zeit für seine Figuren und ihre Geschichten und ist damit auch ein angenehmer Kontrast zur gegenwärtigen Streamingkost und eine Liebeserklärung an das Kino.
»The Holdovers«: ab 25.1. im Kino
USA 2023 R: Alexander Payne, D: Paul Giamatti, Da’vine Joy Randolph, Dominic Sessa, 134 Min.