Enablers auf Tour

Text: | Ressort: Musik | 20. Juni 2009

Das Eis spricht unter seinen Füßen. Es flüstert von dem reißenden Fluss. Das Eis flüstert. Es lacht nicht, es schreit nicht, es verhöhnt ihn nicht – kein Witz auf seine Kosten. Es flüstert und es trägt ihn. Es flüstert dem Dünnen Mann vom Ende seiner Reise.  Es flüstert von Meilen und Meilen zwischen hier und den Pferdewegen Brooklyns.  Es flüstert von den Jahren und Jahren bis an diesen eisigen Fluss.  Das Flüstern des Eises weckt die Erinnerungen.  Erinnerungen an die Frau des Siedlers, den er beredet hat, ihn auf seinem Wagen mitzunehmen.  Erinnerungen an die Goldgräber, die er erschlagen und deren Leichen er bestohlen hat. Er hat die Schwänze russischer Wal-Fischer in den Mund genommen, für die Fahrt über das Meer. Er hat Wölfen das eigene Fleisch von den Rippen geschnitten, so dass sie ihn passieren ließen. Er ist gewandert. Durch Nächte ohne Tag. Und Tage ohne Nächte. Nordwest. West. Südwest. Und ein paar Mal auch im Kreis. Der Dünne Mann hat unzählige Flüsse überquert. Er hat einige Flüsse mehrfach überquert, an Furten, mit Fähren. Er ist geschwommen. Und ein paar Mal ist er auch ertrunken. Und nun, als er das Eis flüstern hört, von einem Fluss, den er nicht sieht, unter all dem elendigen Weiß, wagt er es kaum noch zu glauben, dass dies der Fluss aus seinen Träumen sein soll, die letzte Grenze, hinter der Vision und Gegenwart eins werden: Tunguska. Tunguska flüstert das Eis. Und der Dünne Mann wiederholt das Wort, um sich zu vergewissern, reibt das Wort mit seiner geschwollenen Zunge über seine aufgerissenen, eitrigen Lippen, mit einem bittersüßen Schmerz: Tunguska.

Mit den Schals, mit den an seiner Haut, an seinen Haaren steifgefroren Schals, reißt er sich auch die Haut vom Gesicht. Er schreit den Schmerz hinaus in den Frost, dann vergisst er ihn. Augenblick. Das Blut gerinnt nicht. Es gefriert. Er beugt sich nieder, ganz nah an das Eis. Und er lauscht. Das Eis flüstert ihm die Richtung in sein Ohr. Das Eis flüstert weiter in das Ohr, als der Dünne Mann bereits den Hügel hinaufsteigt, der das Ufer des Flusses markiert. Das Blut, das seinen Hals hinunterläuft, gerinnt nicht. Es gefriert. Der Dünne Mann steigt hinauf. Den Hang hinauf. Er rammt ein Messer in den Eispanzer seiner Kleidung, bricht den Mantel Stück um Stück von seiner Haut. Bricht Haut von seinem Fleisch. Bricht Fleisch von seinen Knochen. Der Dünne Mann bricht wie aus einem Kokon. Er erklimmt den Hang, schließlich ganz nackt, nur noch Getriebener. Nur noch Vision. Nur noch Stimme. Das ist das Ende der Tausend Tode. Das ist der Ort der Verheißung. Das ist der Platz, der letzte Platz, an dem der Himmel die Erde berührt … und an dem der Allmächtige seinen Gebeten nicht länger fliehen kann. Der heiligste Ort dieser Welt ist eine Lichtung zwischen windgeknickten Fichten.

Nur noch Stimme. Nur noch Erinnerung an den Schmerz. Die entfesselte Predigt zerreißt das trügerische Blau des Himmels, in das der Allmächtige sich gerne hüllt. Geschichten des Leids fressen die falsche Farbe. Niemals eine Pointe. Niemals die Frage nach einem Grund. Nur die Geschichten. Nur Geschichte. Fakt für Fakt. Meile für Meile. Jahr für Jahr. Geschichten, die aller Herrlichkeit tiefe Wunden schlagen. Und wirklich quellen Wolken, grau und schwarz, wie Eiter und wie Fäulniss. Der Geisterschatten des Dünnen Mannes zittert unter dem schweren Grollen des Donners. Sturm reißt am Klang der Stimme. Doch sein Psalm hängt zwischen Geist und Himmel. Eine Nabelschnur. Als würden alles Leid und aller Schmerz zurück in ihren Ursprung wachsen – hinter die Wolken, die prall wie Ammen-Titten hängen und Blut und Schwefel tropfen, das Weiß der Lichtung verderbend. Von diesem Regen unberührt, klettert der Geist an der Nabelschnur, an der sicheren Wahrheit seiner Predigt, Zug um Zug, klettert er dahin zurück, wo alles begann … und dann das Licht, die gewaltige Explosion. Ein abruptes, plump-doofes Ende. Wiedermal. So typisch für den Schöpfer. Aber die Wissenschaft rätselt noch heute, was das wohl sollte.

„Tundra“ von Enablers erschien im Januar bei Exile on Mainstream Records.

Tour:

24. Juni 2009 Weltecho, Chemnitz
25. Juni 2009 Fusion Festival, Larz
26. Juni 2009 UT, Connewitz Leipzig
27. Juni 2009 Schokoladen, Berlin

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