Tobias Rapp – Lost And Sound

Text: | Ressort: Literatur, Musik | 28. Juni 2009

„Berlin, Techno und Easyjetset“ lautet die Unterzeile zu diesem Buch, die auch auf dem Cover zu finden ist – dies soll, kann und darf nicht unterschlagen werden. Die thematische Ausrichtung dürfte damit von vornherein ziemlich klar sein, da muss man auch nicht groß herumzicken.
Gleich im Vorwort hat Tobias Rapp auf ein paar Punkte hingewiesen, um Missverständnissen schnellstmöglichst aus dem Weg zu gehen. Nein, dies sei weder ein Techno-Lexikon noch ein Geschichtsbuch, macht er sofort klar und schiebt auch nach, dass man in „Lost and Sound“ nicht einmal besonders viel über Musik finden werde (was aus meiner Sicht eine ziemlich Fehleinschätzung ist, aber dazu später mehr). Vielmehr stellt sich dieses Buch als eine aktuelle Momentbildaufnahme des Hier und Jetzt dar – im konkreten Falle eine Aufnahme des Berlin zwischen – grob gesagt – den Clubs Watergate und Weekend im Sommer 2008. Auch wenn dies inzwischen schon ein paar Monate her ist und die ein oder andere Situation (siehe der Afterhour-Club Bar 25, der mittlerweile Geschichte ist) sich deutlich verändert haben dürfte, werde ich keinesfalls in den Chor der Klugscheißer einstimmen, die allein ob dieser Tatsache auf den Historisierungs-Aspekt hinweisen, nur um dem Autor eine auszuwischen. Pah, Krümelkacker, denke ich mir da zum einen. Und zum anderen, weil „Lost and Sound“ derlei Behandlung wahrlich nicht verdient hat.
Ich jedenfalls habe diese 267 Seiten in einer Woche mit wachsender Begeisterung verschlungen – und mit wachsender Lust. Mit maßlos wachsender Lust, endlich mal wieder in den Club zu gehen. Und die „Vernunft regelmäßig an der Garderobe“ abzugeben, „mit Freuden“, wie es Tobias Rapp so schön formulierte. Richtig, ja, einen ziemlich großen Teil seiner Faszination zieht dieses Buch daraus, trefflich, schick und unglaublich animierend über Club-Situationen zu berichten. So schick und animierend, dass ich am liebsten gleich losgegangen wäre ins Berghain, ins Weekend, ins Watergate, in den Tresor oder ins Golden Gate. Um mir die komplette Dröhnung zu holen mit wahnsinnig lauter, intensiver Musik, mit viel zu viel Alkohol und dem ganzen Kram, der sich dann möglicherweise irgendwie ergibt. Ein wichtiger Punkt: Um dieses Buch wirklich zu verstehen und als Anregung zu lesen, musst du genau diesen Willen zum Exzess zumindest als Sehnsucht im Blut haben. Wer mit dem Gedanken, mindestens von Mitternacht bis um 9 Uhr in der Frühe in einem am besten dunklen, abgeschirmten Club hemmungslos zu feiern und dann derangiert, müffelnd und völlig berauscht den hellen Sonnenschein und das normale Tagesleben euphorisch zu empfangen wie einen Gruß aus einer anderen Welt, einfach nichts anfangen kann – nun, der wird auch mit „Lost and Sound“ nichts anfangen können und das Einzige, was er aus diesen Seiten herauslesen wird ist die Erkenntnis, dass es viel zu vielen Leuten in dieser Lasterhölle Berlin noch viel zu gut geht. Ja, auch diese Lesart ist problemlos möglich. Und für mich gibt dies der ganzen Geschichte noch einmal einen richtigen Kick: Kein Aspekt wird da zugunsten einer Beschönigung ausgeblendet; „Lost and Sound“ ist kein Techno-Reiseführer der weichgespülten Sorte, der sich windelweich um die, ähem, heißen Themen wie (durchaus auch mal anonymer) Sex und Drogen, wie Rauschzustand und Kontrollverlust, wie Montagnachmittags-Afterhour-Irrsinn und Totalabsturz herumdrückt. „Jeder weiß, dass das Nachtleben ohne sie nicht funktioniert, nie funktioniert hat und nie funktionieren wird“, schreibt Tobias Rapp einen von vielen wahren Sätzen – hier über das Thema Drogen (was man natürlich auch gerne dahingehend auslegen kann, dass hier dann auch eine Sache wie Alkohol unbedingt mit reingehört. Und Sex. Und so weiter und so fort). Clubkultur hatte noch nie etwas mit Reinheit, Keuschheit oder Selbstbeschränkung zu tun. Und unter dem Aspekt Techno/House hat sich daran nix geändert – eher im Gegenteil. Schön, dass dies mal einer in dieser gebotenen Deutlichkeit gesagt hat und sei es nur darum, sich all die Leute vom Hals zu halten, die ansonsten im Club von der für sie entsetzlichen Erkenntnis überfallen werden, dass nahezu alle Anwesenden spätestens ab 2 Uhr morgens ordentlich unter Strom stehen und ein nicht geringer Teil von ihnen den sexuellen Aspekt in der Musik ziemlich wörtlich nimmt.
Das ist das eine.
Das andere ist, dass Tobias Rapp (wie schon erwähnt) natürlich ziemlich geschwindelt hat als er im Vorwort festhielt: „Ob Techno, House, Electro oder Minimal – wer hofft, in diesem Buch vor allem etwas über Musik zu lesen, wird ohnehin enttäuscht werden.“ Ich für meinen Teil habe sehr viel über Musik erfahren: Über die Wirkungsweisen von elektronischer Musik beispielsweise (oder die „Wirkmächtigkeit“, ein irgendwie seltsames, faszinierendes und schönes Wort, auf das ich erstmals in diesem Buch gestoßen bin), über Produktion und Verbreitung, natürlich auch über den Zusammenhang zwischen Berlin und Techno. Gut, dies sind nun nicht gerade die klassischen Themen zwischen dieser neuen Platte und diesem heißen neuen Act/DJ/Künstler. Aber es ist ziemlich viel Know-how, um einfach einmal zu verstehen, was hinter der Faszination Feiern/Tanzen/Abstürzen außerdem noch steckt. Die zweite Seite der Medaille einer elektronischen Musik, die sich so vortrefflich zwischen Club-Glamour, Internationalität und Underground-Autarkie eingerichtet hat; die mithin ein popkulturelles Modell liefert für eine, ähem, Szene, die sich selbstständig, eigenständig und mithin durchaus auch eigenfinanziert organisiert mit allen wichtigen Komponenten: Musikern, Club- und Labelbetreibern, Plattenladeninhabern und Programmierern, Türstehern und Barfrauen/-männern, Dealern, natürlich den Konsumenten. „Lost and Sound“ schärft den Blick dafür, welche scheinbar unwesentlichen und auf den ersten Blick keinesfalls miteinander verknüpften Puzzleteile ineinander greifen müssen, um diese Situation zu ermöglichen – am konkreten Beispiel Berlin mit einer ebenso hirnrissigen wie auf ganzer Linie gescheiterten Stadtentwicklungspolitik, die diese Großstadt zielgerichtet in die Pleite führte. Und die jetzt dafür sorgt, dass man in Berlin im Vergleich zu nahezu allen anderen europäischen Großstädten mit verdammt wenig Geld über die Runden kommt. Und die via Überangebot in der Stadt gewaltige Lücken des Leerstands geschlagen hat, die via „Zwischennutzung“ (Berliner Zauberwort, über das man in diesem Buch vieles erfährt) zweckentfremdet werden können. „Lost and Sound“ berichtet über die funktionierende Feierallianz zwischen Touristen, Schwulen, Kreativen und Ossis (sprich, Ravern aus Brandenburg), die das Berliner Clubleben bis auf den heutigen Tag nachhaltig befeuern (und deshalb auch darüber, warum der Tresor einen Parkplatz hat). Darüber, wie die massiv eingebrochenen Flugpreise Techno/House/Electro/Minimal nachhaltig verändert, beeinflusst haben – mit dem Kulminationspunkt Berlin in der europäischen Mitte (warum siehe oben – billig, sage ich da nur!).
Tobias Rapp hat sich für diesen zweiten Teil neben dem subjektiven Erlebnispart eine Menge Arbeit gemacht. Er hat mit vielen Leute gesprochen: Mit Ricardo Villalobos und Andrew Rasse aka Butane (tolle neue Platte übrigens!), mit Tresor-Betreiber Dimitri Hegemann und Steffen Hack vom Watergate, mit Carsten Joost von „MediaSpree versenken“, Olaf Kretschmar von der Berliner Club Commission und der ehemaligen Clubbeauftragten des Berliner Senats Tanja Mühlhaus, mit Robert Henke, den ich noch gut von Monolake kenne und der mittlerweile einer aus dem Team jener Menschen ist, die via Ableton Live die Produktion von elektronischer Musik geradezu revolutioniert haben, und Innervisions-Labelbetreiber Steffen Berkhahn aka Dixon. Und so weiter und so fort. Es sind keine reinen Interviews, die dann in diesem Buch zu finden sind – nein, diesen schnöden Weg geht Tobias Rapp dankenswerter Weise nicht. Nein, es braucht keine Bücher voller Interviews und auch keine Magazine voller Gespräche, wie diverse Zeitgenossen grob fehlmeinen. Zwei oder drei Interviews, okay – wenn sie gut gewählt sind. „Lost and Sound“ enhält genau drei Interviews und sie sind wirklich trefflich gewählt: Nicht die Stars Villalobos oder Efdemin werden abgefeiert, es ist zum einen ein ebenso interessantes wie streitbares Gespräch mit The Circus-Hostelbetreiber Andreas Becker (da könnte zumindest ich schon mal gegenhalten, dass es gar nicht so sicher ist, ob die Flugpreise sich langfristig tatsächlich auf dem niedrigen Niveau halten können, die den Techno-Easyjetset möglich machen). Und andererseits Interviews mit einer 39-Jährigen, die auf Rave hängen geblieben ist, und ihrer 20 Jahre jüngeren Tochter – ein spannendes Lernstück über Generationenkonflikte in etwas anders als gewohnt; der Widerspruch zwischen öffentlichen Club-Exzess und privaten Zurückziehen mal nicht bei Jung und Alt, sondern bei Alt und Jung. Dies ergibt Sinn. Bei allen anderen Interviews macht Rapp sich tatsächlich die Arbeit, die ich von einem Autor erwarte: Er holt das Wesentliche heraus, stellt Zitate und Ansätze in übergreifende Zusammenhänge, wagt Meinungen und Prognosen – kurz gesagt, er gibt mir als Leser dann doch einfach viel mehr in die Hand als das dann doch eher unspektakuläre Begleiten der Selbstbefriedigung: „Ach, was habe ich dem Musiker XY wieder für superintelligente und hochkarätige Fragen gestellt!“. Dabei lernt man gar nichts, spart euch lieber das Geld für Interview-Bücher und -Magazine aller Art.
Kurz gesagt: „Lost and Sound“ ist ein großartiges Buch. Sehr gut und unterhaltsam geschrieben abseits von unverständlichen Insider-Sprech auf der einen und plakativen Großmaul-PR-Geschwafele (auch wenn Tobias Rapp vor allem gegen Ende hin ein wenig zur Redundanz neigt, was aber möglicherweise bei einer Musik, die ja auch auf der stetigen Wiederholung von Loops basiert, durchaus bewusst und gewollt sein kann – deshalb keine Wertung meinerseits); es ist in der Tat keine Mühe, sondern ausgeprägtes Entertainment, das Buch in einem Stück zu lesen. Es strahlt derart viel Wissen und echtes Verständnis aus, dass es eben auch dem Raver ans Herz gelegt werden kann – und es ist andererseits so offen, dass es auch all jene mitnimmt, die einfach nur neugierig sind. Es ist beeindruckend vielschichtig zwischen Popkultur, Soziologie und Stadtentwicklungspolitik (auf jeden Fall!). Und es ist auch kein Schönfeiern des Themas: Das Buch greift sehr wohl Widersprüchlichkeiten, Probleme, gar Kulturpessimismus auf (man lese dazu nur mal, was Robert Henke oder TokTok-Mitstreiter und De:Bug-Redakteur Benjamin Weiss zu den sich zunehmend gleichenden Tracks zu sagen haben, die im Zuge des Ableton Live-Siegeszuges das Internet und mithin auch die Labels überschwemmen). Da wäre das Problem des Rückgangs der Verkaufszahlen bei den Veröffentlichungen, das inzwischen auch alle Techno/House/Electro/Minimal-Labels mit voller Wucht erreicht hat. Und zugleich auch um eine Lösung dieses Problems (endlich mal Leute, die so etwas wie eine zukunftsfähige Vision anzubieten haben): Dieser schöne Vergleich mit Modelabels, die sich ja auch Haute Couture leisten und das Geld mit den Handtaschen und der Alltagskleidung verdienen. Die Gleichung ist klar: Physischer Tonträger = image- und stilbildende Haute Couture und der DJ-Gig als Handtasche des Musikbetriebs. Ich liebe diese Idee – auch wenn sie eben nur im Kontext elektronischer Musik funktioniert, mit den zunehmend einfacher und zugänglicher werdenden Produktionsmöglichkeiten auf der einen und der Chance zum unkomplizierten Geldverdienen via Auflegen (am besten noch mit Laptop und Traktor Scratch) auf der anderen Seite. Es geht auch um ein Club-Thema, das gerne mal vernachlässigt wird, aber eben doch eine existenzielle Rolle spielt: Die Tür. Reinkommen oder nicht, das ist schließlich immer wieder die Frage. Immerhin, das Versprechen ist klar: Vor den Berliner Club-Türen sind alle gleich. Das werde ich wohl mal ausprobieren müssen – für dieses Sehnsucht-Wecken einen schönen Dank an „Lost and Sound“.
PS: Ein schönes und lehrreiches Vergnügen ergab sich, als ich „Lost and Sound“ gewissermaßen im Sample-Modus quer und parallel mit dem zwar aus vollkommen anderen Gründen empfehlenswerten „Elektroschock“ von Laurent Garnier las. Diese Information möchte ich niemanden vorenthalten.
(Suhrkamp)

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2 Kommentare »

  1. Form follows Function – ein paar Absätze hätten dem Text gut getan. Stichwort: Lesbarkeit

  2. absätze?? im winter??? neemuss nicht sein…

    der is stiletto der text, genau so!