Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben
Text: Lars | Ressort: Film | 29. März 2023Es braucht nicht viel, um das alte Rom zum Leben zu erwecken. Eine verfallene Ruine mit dem weiten Blick in eine karge, zerklüftete Landschaft, durch die Menschen in Roben wandeln und reden. Robert Schwentke lässt mit seiner Interpretation des Lebens und Sterbens des römischen Philosophen Seneca eine versunkene Epoche auferstehen und das einzig mit Mitteln des Drehbuchs und furchtloser Darsteller und Darstellerinnen. Wie schon bei seinem außergewöhnlichen Film über das Grauen der SS, der schwarz-weißen Groteske »Der Hauptmann«, bricht Schwentke auch hier mit den althergebrachten Konventionen der Filmhistorie. »Seneca«, der seine Premiere im Rahmen der diesjährigen Berlinale feierte, ist alles andere als ein klassischer »Sandalenfilm«.
Im Jahre 65 nach Christus ist der Mentor Neros ein selbstgefälliger Narziss geworden, der sich für sein Leben gern reden hört. Er war es, der Nero stets begleitete, auch als er mit 16 Jahren den Thron bestieg. Doch aus Nero ist ein launischer Tyrann geworden, der alle in seiner Nähe ermorden ließ und den Tod seiner Mutter selbst verantwortete. Es dauert nicht lang, da ist er auch Senecas beschwichtigender Zunge überdrüssig und beschuldigt ihn fälschlich der Komplizenschaft bei einem Attentat auf sein Leben. Nero sendet einen Attentäter, der Seneca jedoch die Wahl lässt: Entweder setzt er seinem eigenen Leben bis zum Morgengrauen ein Ende oder der Auftragsmörder wird seine bestialische Arbeit verrichten. Seneca tut das, was er am besten kann und redet um sein Leben – bis er realisieren muss, dass ihm das aus dieser Situation nicht heraus helfen wird.
Der Stuttgarter Robert Schwentke hat eine beachtliche Karriere hingelegt, inszenierte mit Jodie Foster (»Flightplan«) und Bruce Willis (»RED«) und die abschließenden Episoden der Jugendbuchverfilmung »Die Bestimmung«. Seine Wurzeln im Genrefilm (»Tattoo«) sind auch bei seinem eigenwilligen Historiendrama zu spüren. »Seneca« ist nichts für Zartbesaitete, das lehrt schon die Geschichte. Schwentke und sein Co-Autor Matthew Wilder lassen sich von ihr inspirieren, servieren aber ihre ganz eigene Interpretation. Im Gegensatz zum Hochglanz Hollywoods zeigt Schwentke die Intrigen, die Missgunst und auch die Gewalt in ihrer ganzen hässlichen Realität. Die Parallelen zur Gegenwart sind überdeutlich, nicht nur weil Schwentkes Figuren Sonnenbrillen und Armbanduhren tragen. Es sind vor allem die Abgründe der menschlichen Natur, die uns im Angesicht rechter Populisten nur allzu vertraut vorkommen.
Auch Seneca ist kein Heiliger und hat durchaus verdient, was ihm blüht. Mit John Malkovich fand Schwentke den perfekten Darsteller, um diese Ambivalenz zu verkörpern und die nahezu 90 Seiten Monolog überzeugend zu transportieren. Sein Seneca ist der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wird flankiert von einem Ensemble aus Geraldine Chaplin, Mary-Louise Parker, Samuel Finzi und Louis Hoffmann. Gaspard Noés Kamera-Genie Benoît Debie (»Enter the Void«) verzichtet bewusst auf hochglanzpolierte Aufnahmen, erzeugt aber dennoch große Kinobilder. »Seneca« ist furchtloses Kino von einem der eigenwilligsten Regisseure des Landes.
»Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben«: ab 23.3. im Kino